Eckpunkte der BT-Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Konvent

From: Marc-Oliver Pahl (info@mopahl.de)
Date: Wed Jan 29 2003 - 04:32:54 CET

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    Eckpunktepapier der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Europäischen Verfassungskonvent
    (28.1.2003 final)

    Seit Ende Februar 2002 tagt der Europäische Konvent mit dem Ziel, der Europäischen Union (EU) eine
    neue Verfassung zu geben. Bündnis 90/Die Grünen unterstützen diesen Verfassungsprozess, der die EU
    auf eine demokratischere und transparentere Grundlage stellen soll. Nur durch eine umfassende
    Demokratisierung kann die EU auch zu einer Union der Bürgerinnen und Bürger werden. Zudem müssen die
    Entscheidungsstrukturen der EU dergestalt reformiert werden, dass die Europäische Union auch nach
    der Erweiterung ihre volle Handlungsfähigkeit bewahren kann.

    Die zukünftige Verfassung soll aus zwei Teilen bestehen, einem ersten Teil, der die klassischen
    Verfassungsinhalte, also Grundrechte, Ziele, Kompetenzen, Institutionen und Verfahren, umfasst und
    einem zweiten Teil, der die Politiken der EU inhaltlich bestimmt. Die bündnisgrünen Vorstellungen
    einer europäischen Verfassung werden dabei von folgenden Eckpunkten geleitet:

    Erster Teil der Verfassung

    Bündnis 90/Die Grünen fordern die Schaffung einer einheitlichen europäischen Verfassung. Einer
    Verfassung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass der europäische Integrationsprozess längst mehr
    ist als die Zusammenarbeit zwischen Staaten und auch mehr als ein Staatenverbund. Bündnis 90/Die
    Grünen wollen eine Verfassung, die die Entscheidungsabläufe der EU demokratisch gestaltet, die
    Gewaltenteilung garantiert und die EU nicht nur zu einer Union der Staaten, sondern zu einer
    wirklichen Union der Bürgerinnen und Bürger macht und ihnen gleiche Rechte garantiert. Die neue
    Verfassung soll die bisherigen Verträge ersetzen und die im EU-Vertrag angelegte Säulenstruktur
    überwinden. Dies wird die Verständlichkeit der EU erhöhen und umfassende demokratische Strukturen
    verankern.

    Wir fordern die Integration der EU-Grundrechtscharta in die Verfassung. Dabei muss sichergestellt
    werden, dass im Bereich der Menschenwürde alle Menschen als Adressaten der sich hieraus ergebenden
    Rechte gemeint sind.

    Eine individuelle Grundrechtsbeschwerde muss den Bürgerinnen und Bürgern den Weg zum Europäischen
    Gerichtshof ermöglichen. Die EU soll Rechtspersönlichkeit erlangen, unter anderem damit sie der
    Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten kann.

    In die Zielbestimmungen der Verfassung müssen unter anderem Nachhaltige Entwicklung, zivile
    Krisenprävention, Nichtdiskriminierung, Umwelt- und Tierschutz, Generationengerechtigkeit, die
    Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Verbraucherschutz, Chancengleichheit sowie soziale
    Gerechtigkeit aufgenommen werden. Die soziale und ökologische Marktwirtschaft soll als
    wirtschaftliches Grundprinzip der EU festgeschrieben werden.
    Die Kompetenzordnung der EU muss transparenter werden, damit für die Bürgerinnen und Bürger klar
    ist, welche politische Ebene in Europa für welchen Bereich die Hauptverantwortung trägt. Die
    Kompetenzordnung muss aber weiterhin flexibel und entwicklungsoffen bleiben, um auf neue
    Herausforderungen und einer Welt im Wandel angemessene Antworten geben zu können. Dabei bildet das
    Subsidiaritätsprinzip den Ausgangspunkt der Kompetenzordnung. Das bedeutet aber auch, dass in
    Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten heute allein nicht mehr wirksam handeln können, die
    Kompetenzen der EU gestärkt werden müssen.

    Bündnis 90/Die Grünen treten ein für die umfassende Demokratisierung der Entscheidungsprozesse auf
    europäischer Ebene. Die gesetzgebende Gewalt soll gleichberechtigt von EP und Rat ausgeübt werden.
    Daher soll das EP ein uneingeschränktes Mitentscheidungsrecht in allen Bereichen der Rechtsetzung
    und des Haushalts erhalten. Wir treten für die Vereinheitlichung des Wahlrechts zum Europäischen
    Parlament ein. Darüber hinaus fordern wir, dass zur Beförderung einer europäischen Öffentlichkeit
    ein Teil der Sitze im EP über europäische Listen gewählt wird.

    Im Rat sollten die verbliebenen Einstimmigkeitserfordernisse abgeschafft werden. Der
    Abstimmungsmodus im Rat sollte dadurch vereinfacht werden, dass ein System der doppelten Mehrheit
    eingeführt wird. Ein Beschluss kommt danach zustande, wenn eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, die
    gleichzeitig eine Mehrheit der Bevölkerung umfasst, diesem zustimmt. Die Öffentlichkeit der
    Gesetzgebungsverfahren muss als elementares demokratisches Prinzip gewährleistet sein.

    Wir sprechen uns für die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission durch das Europäische
    Parlament aus. Die Bestätigung dieser Wahl durch den Europäischen Rat würde unserer Vorstellung
    einer BürgerInnen- und Staaten-Union am besten gerecht werden. Die Mehrheitsverhältnisse im
    Parlament und eine geographische Ausgewogenheit sollten bei der Zusammensetzung der Kommission
    berücksichtigt werden. Die Kommission muss zu einer starken Exekutive der EU werden. Der Europäische
    Rat muss sich auf die Festlegung der Grundlinien gemeinschaftlicher europäischer Politik
    konzentrieren.

    Damit die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik kohärenter und effizienter handeln kann, sollte
    diese weiter vergemeinschaftet werden. Die gemeinsamen Strukturen müssen gestärkt werden. Mit
    Ausnahme des Militärbereichs soll im Rat zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen übergegangen
    werden. Als Zwischenschritt muss zur besseren Verzahnung von Kommission und Rat bei der Konzeption
    und Umsetzung der Außen- und Sicherheitspolitik eine Personalunion des Hohen Repräsentanten und des
    Kommissars für Außenbeziehungen angestrebt werden. Die umfassende parlamentarische Kontrolle der
    europäischen Außen- und Sicherheitspolitik durch das EP und die nationalen Parlamente ist zu
    gewährleisten.

    Wir lehnen die Einrichtung neuer Institutionen ab, da damit das Institutionengefüge der EU noch
    komplexer würde und somit für die BürgerInnen intransparenter und weniger demokratisch. Wir fordern
    allerdings im Sinne der Agenda 21 den Wirtschafts- und Sozialausschuss zu einem „Ausschuss für
    Nachhaltige Entwicklung“ zu erweitern und seine Beratungsfunktion gegenüber den EU-Organen zu
    stärken. Der Nachhaltigkeitsdimension muss darüber hinaus gemäß der Göteborg-Strategie im
    Gemeinschaftsrecht stärker als bisher Rechnung getragen werden.

    Bündnis 90/Die Grünen fordern die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid
    auch im Rahmen des europäischen Verfassungsprozesses. Weiterhin setzen wir uns für ein europäisches
    Referendum zur Annahme der Verfassung ein.

    Zweiter Teil der Verfassung

    Im zweiten Teil der Verfassung sollen die in den jetzigen Verträgen festgelegten Bestimmungen zu den
    einzelnen Politikbereichen verankert werden. Eine Reform dieser Fachpolitiken ist nicht Teil des
    Mandats des Konvents. Gleichwohl hat der Konvent Arbeitsgruppen eingesetzt, die Vorschläge in den
    Bereichen Außen- und Verteidigungspolitik, Sozial- und Ordnungspolitik sowie Innen- und
    Rechtspolitik vorgelegt haben.

    · Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik soll weiter europäisiert werden. Sie orientiert
    sich an einem umfassenden Sicherheitsbegriff, der gesellschaftspolitische, wirtschaftliche, soziale
    und ökologische Kriterien mit einschließt. Die EU setzt sich die Sicherheit und Stabilität ihres
    regionalen Umfelds zum Ziel. Sie orientiert sich dabei an den Kriterien der Krisenprävention und der
    zivilen Konfliktlösung. Die entwicklungspolitischen Instrumente der EU und ihrer Mitgliedstaaten
    sind besser zu koordinieren. Die EU trägt zur gerechten und nachhaltigen Gestaltung der
    Globalisierung und zur Stärkung multilateraler Institutionen wie der Vereinten Nationen bei. Ein
    gemeinsamer Sitz im UN-Sicherheitsrat und eine gemeinsame Vertretung der EU in internationalen
    Finanzinstitutionen wie dem IWF sollen dabei die Effektivität der EU-Außenpolitik weiter erhöhen.

    · Auch in der Justiz- und Innenpolitik fordern wir eine Verstärkung der gemeinsamen Politik. Für die
    Asyl- und Migrationspolitik soll das Gemeinschaftsverfahren uneingeschränkt gelten. Die
    Europol-Konvention soll in den Rechtsrahmen der EU überführt und die Rechtsgrundlage für eine
    europäische Staatsanwaltschaft sowie eine europäische Grenzpolizei geschaffen werden. Dies muss aber
    einhergehen mit der vollständigen Beteiligung des Europäischen Parlaments und der uneingeschränkten
    Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof. Unionsbürgerrechte sollten je nach Aufenthaltsdauer
    auch auf diejenigen Bürger ausgedehnt werden, die sich aus Drittstaaten rechtmäßig in der EU
    aufhalten.

    · Die bisherige Finanzierung der EU über primär mitgliedsstaatliche Beiträge soll vereinfacht und um
    die Möglichkeit der EU, eigene Steuern im Sinne von Aufkommensanteilen an bestehenden Steuern zu
    erheben, ergänzt werden. Über diese Aufkommensanteile für die EU soll das EP gemeinsam mit dem Rat
    beschließen. Gleiches gilt für die Möglichkeit, z.B. bei Flugbenzin oder Devisentransaktionen zu
    einer gemeinsamen europäischen Besteuerung zu kommen. Weiterhin halten wir eine Harmonisierung der
    Steuervorschriften in Europa in den binnenmarktrelevanten Bereichen für notwendig.

    · Das Haushaltsrecht des Europäischen Parlaments ist in der Verfassung zu verankern. EP und Rat
    sollen gleichberechtigt über die Ausgaben entscheiden. Ein Recht auf Verschuldung ist weiterhin
    nicht zulässig. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte als wirtschaftspolitisches Instrument
    nicht Bestandteil der Verfassung sein. Die Unabhängigkeit der EZB ist zu gewährleisten.

    · Die europäische Wettbewerbsordnung soll gewährleisten, dass kleine und mittlere Unternehmen faire
    Chancen im Markt bekommen. Besonders in den Bereichen ehemaliger Monopole wie Telekommunikation,
    Post, öffentlicher Personenverkehr, Strom und Gas brauchen wir einen verbindlichen europäischen
    Wettbewerbsrahmen. Wettbewerb soll jeweils so weit eingesetzt werden, wie er die Bereitstellung von
    Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger in ökologisch und sozial sinnvoller Weise unterstützt. Der
    Staat behält die Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu den Leistungen
    der öffentlichen Daseinsvorsorge haben.

    · In der Sozialpolitik ist in Anbetracht des integrierten Binnenmarktes auch im Bereich der sozialen
    Sicherungssysteme die Einführung von europäischen Mindeststandards notwendig. Wir wollen langfristig
    Sozialsysteme erreichen, die grenzüberschreitenden Erwerbsbiografien gerecht werden und die
    Niederlassungsfreiheit auch sozial gewährleisten. Im Bereich der Beschäftigungspolitik ist die
    Koordinierung der nationalstaatlichen Politiken zu verstärken.

    · Die Gemeinsame Agrarpolitik soll sich an einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Entwicklung der
    ländlichen Räume und der landwirtschaftlichen Produktion sowie an den Anforderungen von
    Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutz ausrichten. Dafür ist eine grundlegende EU-Agrarreform
    notwendig. Zentrales Ziel ist die Förderung der nachhaltigen Entwicklung und damit der Erhalt bzw.
    die Schaffung von Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die
    stoffliche und energetische Nutzung der Biomasse. Die zukünftige gemeinsame Agrarpolitik soll die
    Produktion hochwertiger gesunder Nahrungsmitteln, beispielsweise im ökologischen Landbau, und die
    Erzeugung erneuerbarer Energien unterstützen. Gemeinsame Qualitätsstandards, verbrauchergerechte
    Kennzeichnung sowie Kontrolle und Schutz bei der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen
    sind wichtige Bestandteile des vorsorgenden Verbraucherschutzes. Gerechter Marktzugang und fairer
    Handel müssen vor allem für Entwicklungsländer gewährleistet werden. Dazu ist die Abschaffung der
    handelsverzerrenden Exportsubventionen notwendig.

    · Der Verbraucherschutz stellt im 21. Jahrhundert neue Anforderungen an den Staat und die
    Unternehmen. Ziel des Verbraucherschutzes ist ein umfassender Schutz der Verbraucherinnen und
    Verbraucher sowie breite Information, Transparenz und Orientierung, um ihre Souveränität zu erhöhen.
    Neben einem umfassenden Verbraucherschutz bei Nahrungsmitteln sind deshalb auch in allen anderen
    Güter- und Dienstleistungsbereichen weitreichende Verbraucherrechte sicherzustellen. Um die Rechte
    der Bürgerinnen und Bürger im Binnenmarkt zu stärken, sind hohe gemeinsame Standards beim
    Verbraucherschutz unverzichtbar.

    · Gerade auch im Hinblick auf die Erweiterung der EU und die sich damit vergrößernde Heterogenität
    in Bereich der Umweltpolitik ist eine möglichst umfassende Regelungskompentenz der EU zum Erlass von
    Mindeststandards notwendig. Die Strategie zur nachhaltigen Entwicklung muss konsequent umgesetzt und
    mit den nationalen Strategien verbunden werden. Die Umweltpolitik der EU muss dabei vor allem auf
    ökologische Stoff- und Produktpolitik, nachhaltige Land- und Ressourcennutzung sowie eine Stärkung
    der Produktverantwortung zielen und verstärkt gesundheitlichen Gefahren wie Lärm und
    Strahlenbelastung entgegenwirken. Die Kommission soll weiterhin dazu verpflichtet werden,
    strategische Umweltverträglichkeitsprüfungen durchzuführen und dabei auch Wissenschaft und Verbände
    anzuhören. Insbesondere in Umweltfragen muss das Verbandsklagerecht gemäß der Aarhus-Konvention
    ausgebaut werden.

    · Die Europäische Union hat die Nachhaltigkeit zu einem Grundsatz ihrer Politik gemacht. Mit ihrer
    Unterschrift unter das Kyoto-Protokoll hat sie sich den Zielen des Klimaschutzes verpflichtet. Dies
    beinhaltet auch die Umsetzung einer umweltfreundlichen Energiepolitik und damit die Förderung von
    erneuerbaren Energien, von Energieeffizienz und Einsparungsmethoden. Die bisherigen einseitigen
    Subventionsmechanismen und Forschungsunterstützungen für Kohle- und Atomenergie müssen beendet
    werden. Dies erfordert die Aufhebung des Euratom-Vertrags. Dieser ist mit unseren Zielen für eine
    Europäische Verfassung nicht vereinbar. Die im Euratom-Vertrag festgelegten Überwachungsfunktionen
    müssen aber erhalten bleiben.

    · Die EU ist dem Grundsatz der Geschlechterdemokratie verpflichtet und setzt sich aktiv für die
    Gleichstellung von Frauen und Männern ein. Das Prinzip des Gender Mainstreaming muss konsequenter in
    allen Handlungsfeldern der EU umgesetzt werden.

    · Bei der Gestaltung ihrer Politik muss die EU Kinderrechte sowie das Wohl und den Schutz von
    Kindern und Jugendlichen in besonderem Maße berücksichtigen.

    Im Rahmen des Konvents ist aufgrund des engen Zeitrahmens leider keine umfassende Reform aller
    Fachpolitiken realisierbar. Es erscheint uns deshalb wichtig, auf die weiter anstehenden
    Reformnotwendigkeiten in wichtigen Bereichen europäischer Politik hinzuweisen. Insgesamt betrachtet
    muss sich die Ausgestaltung der Politiken in Zukunft weit stärker an den in der Verfassung
    verankerten Zielbestimmungen ausrichten. Mit der gleichberechtigten Beteiligung des EPs und der
    Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat verbinden wir darüber hinaus die Hoffnung, dass wir
    zu substanziell besseren Ergebnissen in allen Politikfeldern kommen werden.

    Dieses Papier markiert Eckpunkte einer bündnisgrünen Vorstellung einer Europäischen Verfassung,
    erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist gleichzeitig gedacht als Einladung zur
    Diskussion über die Zukunft Europas. Wir wollen diese Diskussion mit den anderen grünen Parteien in
    Europa, mit der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament und mit den Bürgerinnnen und
    Bürgern der Europäischen Union führen.



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