Europapolitischer Teil der Regierungserklärung von heute

From: Marc-Oliver Pahl (info@mopahl.de)
Date: Tue Oct 29 2002 - 21:15:09 CET

  • Next message: Theodor.Schlickmann@cec.eu.int: "RE: [Fwd: PM 0572/2002 (EU-Verfassungskonvent)]"

    Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen
    Bundestag am 29. Oktober 2002 in Berlin
    "Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung schaffen - für eine
    Partnerschaft in Verantwortung"

    [...]

    X. Ein Europa der Menschen und der Teilhabe

    Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen Rat in Brüssel gelungen,
    eine tragfähige Grundlage für die Erweiterung der Europäischen Union zu
    schaffen. Damit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang dieses
    Jahrhunderts - die endgültige Überwindung der schmerzlichen Teilung
    Europas - erfolgreich abgeschlossen werden. Wir haben gewusst, dass wir
    diese historische Chance nur nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im
    "Europa der 15" vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen auf ein belastbares
    finanzielles Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen.

    Mit dem Brüsseler Kompromiss ist, vor allem durch die Zusammen­arbeit mit
    unseren französischen Freunden, ein Ergebnis erzielt worden, das den
    Erfordernissen der Begrenzung der Agrarkosten in der erweiterten
    Europäischen Union Rechnung trägt, aber nie die historische Tragweite der
    Entscheidung aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit unseren Partnern sind
    wir der gemeinsamen Verantwortung vor der Geschichte gerecht geworden und
    haben die Grundlagen dafür gelegt, dass auch in Europa zusammen wachsen
    kann, was zusammen gehört. Wir werden nunmehr beim Europäischen Gipfel im
    Dezember in Kopenhagen die Beitritts­verhandlungen mit zehn mittel- und
    osteuropäischen Ländern abschließen können. Dabei wissen wir: Gerade uns
    Deutschen bieten sich mit der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen
    Union großartige Möglichkeiten.

    Meine Damen und Herren, die Geschichte der Einigung Europas ist eine
    einmalige Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen Integration
    mit der Herstellung des größten Binnenmarktes der Welt und der Einführung
    der gemeinsamen Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalismen in
    Europa zu überwinden. Aber Europa zeichnet weit mehr aus als wirtschaftliche
    Stärke, Leistungs­fähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das ja
    nie geographisch, sondern immer politisch definiert war, steht für eine ganz
    spezifische Kultur und Lebensform. In Europa hat sich ein eigenes und
    einzigartiges Zivilisations- und Gesell­schaftsmodell durchgesetzt, das auf
    den Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teilhabe als
    Triebkraft der Entwicklung setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus einer
    blutigen Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und
    Zukunft gefunden hat, ist eine echte Wertegemeinschaft geworden. Das
    europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus
    Individualität und Solidarität hat sich bewährt. Es ist ein Modell, das auch
    in Zeiten der Globalisierung beste Entwicklungschancen bietet.

    Die Europäische Union ist die Antwort der Völker Europas auf Krieg und
    Zerstörung. Sie ist unsere Antwort auf die Globalisierung und auf die
    Heraus­forderung durch Instabilität und Terrorismus. Allerdings hat sich in
    der vergangenen Zeit das eigentliche Problem in der europäischen
    Konstruktion zunehmend bemerkbar gemacht: ich meine die Zuordnung von
    Verantwortlichkeiten. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Europäische
    Union auch mit 25 oder mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt.

    Unser Ziel ist eine starke und handlungs­fähige, eine verständlich
    organisierte und demokratisch legitimierte Europäische Union, die sich durch
    Bürgernähe und Transparenz auszeichnet. Dieses Ziel wollen wir bis zur
    Regierungskonferenz im Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen
    Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element für eine künftige
    europäische Verfassung vor. Was wir darüber hinaus zur Komplettierung der
    europäischen Verfassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz des
    früheren französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing beraten. Die
    Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Konvents nach Kräften. Wir werden
    daran mitwirken, einen umfassenden Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er
    muss beinhalten:

    - eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den
    Mitgliedstaaten und der Europäischen Union,
    - die Schaffung einer starken und zugleich auch politisch
    verantwort­lichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen Parlament zu
    wählen ist,
    - ein in seinen Rechten deutlich gestärktes Europäisches Parlament,
    - die Reform des Rates, der grund­sätzlich mit qualifizierter Mehrheit
    entscheiden soll,
    - und eine verbesserte Zusammen­arbeit der Gemeinschaft in Fragen der
    inneren und äußeren Sicherheit.

    Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen wie auch die Arbeiten an
    der europäischen Verfassung werden wir in enger Abstimmung mit Frankreich
    betreiben. Denn ohne ein gemeinsames deutsch-französisches Vorgehen werden
    wir ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus der Vertiefung und Erweiterung
    allen Europäern zugute kommt, nicht erreichen können.

    [...]

    Quelle:
    www.bundesregierung.de/index-,413.446416/Regierungserklaerung-von-Bunde.htm



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