-------- Original Message --------
Betreff: Neue Reden des Auswärtigen Amtes
Datum: Mon, 25 Feb 2002 16:51:51 +0100
Von: listmaster@g01031.hosting.bln.de.colt-isc.net
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Rede von Bundesaußenminister Fischer zum Konvent zur Zukunft der Europäischen Union vor dem
Deutschen Bundestag am 22. Februar 2002 (Auszug)
Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
Demokratiedefizit
Funktionsdefizit
Aufgaben des Konvents
Kompetenzabgrenzung
Staatenbund oder Föderation
Doppelrolle des Europäischen Rates
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wenn wir bis zum Jahre 2006 oder kurz darüber hinaus
vorausschauen, werden wir feststellen, dass wir vor drei wirklich
zentralen Aufgaben stehen, die nicht nur Deutschland, sondern die
Europäische Union als Ganzes in einem hohen Maße fordern
werden.
Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
Die erste Aufgabe ist, endlich den Schritt zu machen, die
europäische Integration zu leisten, und zwar in räumlicher
Ausdehnung durch die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. Das wird, da
die Arbeit gut vorankommt – entsprechend den Vorgaben der
Europäischen Räte von Nizza und Göteborg –, hoffentlich
bis zum Frühsommer 2004 gelingen, sodass die ersten neuen
Mitgliedstaaten an der Wahl zum Europaparlament werden teilnehmen
können.
Demokratiedefizit
Dies wird aber eine große Herausforderung für uns alle
bedeuten, und zwar in finanzieller und institutioneller Hinsicht.
Wenn es so kommt, wie die Kommission meint, dass es vermutlich
kommen wird, dass zehn neue Mitgliedstaaten aufgenommen werden,
werden wir eine Europäische Union der 25 haben. Dies wird das
institutionelle Gefüge vor grundsätzliche Herausforderungen
stellen, und zwar nicht nur im funktionalen, sondern
auch im demokratischen Sinne. Ein Staatenverbund mit 25
Mitgliedstaaten wird die Kompromisse immer undurchschaubarer und
die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Nationalstaaten
immer komplizierter und überfrachteter machen. Die einzelnen
Staaten werden schwerer zusammenzubringen sein, die
Kompromisspakete werden von den Menschen immer weniger verstanden
werden. Damit wird ein heute bereits sich abzeichnendes
Legitimationsdefizit verstärkt werden, sodass die Zustimmung zu
der für uns alle unverzichtbaren europäischen
Entscheidungsebene – denn Europa bedeutet unser aller
Zukunft – in den Mitgliedstaaten abnehmen wird. Das kann
nicht in unserem Interesse sein.
Funktionsdefizit
Es ist aber auch die funktionale Seite berührt. Die neuen
Mitgliedstaaten haben kein Interesse, in eine Europäische Union
einzutreten, die nur noch unzureichend funktioniert oder gar in
eine Stagnation verfällt. Wir dürfen uns keine Illusionen
darüber machen – ich plädiere hier für Realismus; gerade
wir Deutsche sind dafür besonders geeignet, da wir
innerstaatlich die Schwierigkeiten des Zusammenfindens und
Zusammenwachsens bereits erlebt haben –, wieviel Geduld und
gegenseitigen Verständnisses es bedarf. Es treten neue
Mitgliedstaaten ein, die für ihre nationale Unabhängigkeit von
der Sowjetunion und gegen Diktaturen über fünf Jahrzehnte
hinweg gekämpft haben. Wir werden neue Mitgliedstaaten bekommen,
die ihren eigenen Zugang zur europäischen Integrationsidee haben
und – das ist sehr wichtig – im Laufe der Zeit weiter
entwickeln müssen.
Aufgaben des Konvents
Das alles wird keineswegs die Bindungskraft einer sich
erweiternden Europäischen Union verstärken. Wenn also zu dem
Demokratieproblem auch noch ein Funktionalitätsproblem hinzu
käme, würde das die Europäische Union vor sehr ernste Probleme
stellen. Genau deshalb besteht ein unmittelbarer Zusammenhang
zwischen Erweiterung und Vertiefung der Integration. Hier liegt
die Hauptaufgabe. Ich sage unbeschadet der parteipolitischen
Positionen, die hier eingenommen werden – in der Politik
zählen die Ergebnisse –:
Wenn der Konvent das Demokratieproblem und das
Funktionalitätsproblem nur unzureichend lösen würde, würden
wir mit einer Union der 25 eben nur unzureichende Ergebnisse
erzielen, die dann zu unzureichenden Konsequenzen führten.
Ich wünsche mir, dass sich der Konvent an diesen
Grundtatsachen orientiert:
Wie kann eine europäische Demokratie der 25 Mitgliedstaaten
funktionieren? Welches institutionelle Gefüge und welches
Verhältnis von nationalstaatlicher und europäischer Ebene
braucht sie? Ich stimme völlig damit überein, dass die
innerstaatliche Organisationskompetenz bei den Nationalstaaten
liegt. Es wäre geradezu unsinnig, bei einer so unterschiedlichen
föderalen und zentralstaatlichen Tradition, wie sie
beispielsweise in Deutschland und Frankreich besteht, plötzlich
von Brüssel her entscheiden zu wollen. Das wird nicht
funktionieren.
Aber die entscheidende Frage ist die nach der Funktionalität
einer europäischen Demokratie. Dabei wage ich die Prophezeiung,
dass auf den Konvent eine sehr schwierige Aufgabe zukommt. Meine
These ist, dass der Konvent bereits zu 95 Prozent oder mehr über
den Erfolg der dann stattfindenden Regierungskonferenz
entscheiden wird. Ich sehe nicht, dass die Regierungskonferenz
Ergebnisse erzielen wird, die der Konvent nicht schon vorher
hinbekommen hat. Aber wir werden sehen, dass die nationalen
Widersprüche bzw. die unterschiedlichen Verfassungstraditionen
und die unterschiedlichen Vorstellungen von Europa nicht zwischen
Parlamentariern und Regierungsvertretern, sondern im Konvent
erstens ausgetragen und zweitens in einen Konsens überführt
werden müssen. Zugleich bestehen zentrale
Interessenwidersprüche zwischen Groß und Klein.
Kompetenzabgrenzung
Auch die Vorstellungen zur Kompetenzabgrenzung, die Sie eben
mit dem Schäuble-Bocklet-Papier artikuliert haben, Herr Müller,
werden von sehr vielen – ich behaupte sogar: von der
Mehrheit – in der Europäischen Union mit großer Skepsis
gesehen und nur sehr eingeschränkt geteilt, um es in
diplomatische Formulierungen zu kleiden.
(...)Ich beschreibe nur das Spannungsverhältnis, in dem sich
der Konvent befinden wird. Deswegen plädiere ich für sehr viel
Realismus, das heißt, dass visionäre Kraft, wie man sich einen
solchen Kompromiss vorstellt, auch mit Realismus gepaart ist.
Staatenbund oder Föderation
Es wird viele Ideen geben. Für mich lautet die zentrale
Frage – damit komme ich zum Schluss; das würde ich Herrn
Meyer und seinem Stellvertreter Altmaier als Vertreter des
Parlaments gerne mit auf den Weg geben –: Verlassen wir den
Staatenverbund und schaffen wir den Schritt in die Föderation?
Schaffen wir also auf der politischen Ebene denselben Schritt,
den wir mit dem Maastricht-Vertrag auf der monetären
Ebene und der Ebene des gemeinsamen Marktes geschafft haben, ja
oder nein? Das richtet sich danach, ob wir den Staatenverbund
überschreiten und zu der Föderation gelangen, was die
politische Integration bzw. die Schaffung einer europäischen
Demokratie ausmacht.
Doppelrolle des Europäischen Rates
Es wird sich meines Erachtens zeigen, ob die Doppelrolle des
Europäischen Rates wirklich überwunden und aufgelöst werden
kann – dazu gibt es unterschiedliche Varianten und Ansätze
– oder ob – in welcher Form auch immer – die
Doppelrolle des Rates erhalten bleibt. Bleibt die Doppelrolle
erhalten, bleiben wir im Staatenverbund. Dann wird es mit 25
Mitgliedstaaten alles andere als einfach werden. Überschreiten
wir den Staatenverbund, werden wir den Schritt in die Föderation
gehen und der Rat wird sich zwischen Legislative und Exekutive
entscheiden müssen. Das ist für mich die zentrale Frage.
Die Zeit lässt es nicht zu, näher in die Details zu gehen.
Aber ich bin mir sicher, dass wir im Rahmen des Ausschusses, Herr
Vorsitzender, noch Gelegenheit haben werden, mit allen am Konvent
Beteiligten diese Fragen zu diskutieren. Ich wünsche Ihnen allen
und auch uns Erfolg; denn Europa ist unser gemeinsames Schicksal.
Gerade die jüngsten weltpolitischen Ereignisse zeigen:
Bleiben die Europäer getrennt und schaffen wir die europäische
Demokratie nicht, dann werden wir nicht zum Gestaltungsfaktor,
sondern werden mitgestaltet werden. Ich meine, es liegt in unser
aller Interesse, gemeinsam mit unseren Partnern im 21.
Jahrhundert ein Gestaltungsfaktor zu werden und zu bleiben.
Danke.
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