Europa im Bundestagswahlkampf....
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DIE ZEIT
Politik 06/2002
Europapolitik der Bundesregierung
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Frank Capellan im Gespräch mit Friedbert Pflüger, Vorsitzender des Ausschusses für Europäische Angelegenheiten, und Karel van Miert, ehemaliger EU-Wettbewerbskommissar
Deutschlandfunk-Interview am Morgen, 6. Februar 2002
von
Gerhard Schröder: Die Zerstörung der
Gruppenfreistellungsverordnung hat schon enorme
Wettbewerbsnachteile für die deutsche
Automobilindustrie. Wer in dieses gewachsene System mit
Wettbewerbsgesichtspunkten eingreift, der muss sich auch
immer klar machen nicht nur was er fördert, sondern
auch klar machen was er zerstört.
Capellan: Automann Schröder warnt also vor
Veränderungen. Zum wiederholten Mal legt sich
Deutschlands Regierungschef damit mit der Europäischen
Kommission an, diesmal also mit Wettbewerbskommissar Mario
Monti. Und mit dessen Vorgänger, mit Karel van Miert,
sind wir jetzt verbunden. Guten Morgen!
Van Miert: Guten Morgen.
Capellan: Herr van Miert, Deregulierung, mehr
Wettbewerb, Vorteile für den Verbraucher, Europa von
seiner angenehmen Seite und das im Wahljahr hierzulande in
Deutschland. Trotzdem die Kritik des Bundeskanzlers. Ist das
für Sie eigentlich nachvollziehbar?
Van Miert: Ich verstehe den Herrn Bundeskanzler
nicht, weil was wir hier machen oder was Herr Monti jetzt
weiter macht - wir haben das schon vorher angefangen -, das
ist etwas, was ganz im Sinne eines europäischen
Binnenmarktes ist, dass auch die Bürger ihren PKW
kaufen können wo sie wollen, wo es am billigsten ist.
Warum soll man das denn eigentlich nicht machen? Das ist
für alle Produkte so. Das ist für die meisten
Dienstleistungen so. Also ist das überfällig. Ich
bedauere, dass der Bundeskanzler sich hier hundertprozentig
mit den Autoherstellern identifiziert, die übrigens in
der Vergangenheit sich nicht richtig verhalten haben. VW zum
Beispiel hat mehrere Bußgelder bekommen, weil sie die
Rechte der Bürger nicht respektiert haben. Ich muss
sagen, gelegentlich sind die als Autohersteller auch mal auf
eine Art und Weise aufgetreten, die überhaupt nicht in
Übereinstimmung mit den europäischen Gesetzen war.
Capellan: Das heißt also, Ihrer Ansicht
nach sorgt sich der deutsche Bundeskanzler zu sehr um die
Industrie. Die Sorge um Arbeitsplätze ist eigentlich
unbegründet. Haben Sie den Eindruck, dass er vielleicht
von eigenen Schwächen der Arbeitsmarktpolitik
hierzulande ablenken möchte?
Van Miert: Ich glaube, das ist wirklich ein sehr
konservatives Verhalten, was Herr Schröder hier
angenommen hat. Natürlich wird es einige
Änderungen geben und nicht alle Autohändler werden
wahrscheinlich überleben. Für andere gibt es aber
neue Chancen. Die können mehrere Marken verkaufen, die
können auch außerhalb ihres früheren
Gebietes jetzt aggressiv ihre eigene Verkaufspolitik machen.
Warum soll man das nicht zulassen. In den meisten anderen
Bereichen ist das schon so. Warum soll es nicht endlich auch
im Automobilbereich so sein.
Capellan: Sie haben sicherlich auch
festgestellt: der Ton zwischen Berlin und Brüssel ist
schon etwas schärfer, etwas rauer geworden. Erst zum
Wochenende hat Gerhard Schröder
Kommissionspräsident Prodi vorgeworfen, aus politischen
Gründen allein Deutschland einen "blauen Brief"
zukommen zu lassen wegen der zu hohen Staatsverschuldung.
Glauben Sie, dass der Kanzler sich da ganz bewusst etwas im
Ton vergreift? Ich will sagen, will er ganz bewusst
provozieren?
Van Miert: Ich glaube, es gibt bald Wahlen in
Deutschland. Das spielt natürlich mit. Ich glaube aber,
was Herr Schröder gemacht hat, das war völlig
unangebracht, weil auch Deutschland steht nicht über
den Gesetzen. Deutschland ist natürlich das
größte Mitgliedsland, aber Deutschland hat damals
den Stabilitätspakt gewünscht und hat das auch
durchgesetzt. Jetzt muss Deutschland das auch respektieren.
Wenn die Kommission ihre Arbeit macht, so wie sie es auch
gegen kleinere Mitgliedsstaaten gemacht hat, dann soll
Deutschland sagen ja, wir haben ein Problem, wir sollen das
lösen. Übrigens hat die Kommission das mit sehr
viel Fingerspitzengefühl gemacht. Man kann wirklich
nicht sagen, dass die Kommission übertrieben reagiert
hat.
Capellan: Also Sie wären im Grunde für
den "blauen Brief", Herr van Miert, obwohl die Kritik sich
ja nicht gegen Hans Eichel und seine Sparpolitik als solche
richtet?
Van Miert: Nein. Die Kommission hat eigentlich
gesagt ja, was Herr Eichel macht, das ist schon angebracht,
tüchtig weiter machen. Die Kommission hat diese
Verantwortlichkeit bekommen innerhalb des
Stabilitätspaktes, was von Deutschland damals gewollt
worden ist und den anderen Partnern damals auferzwungen
worden ist. Dann soll man heute nicht sagen, wir stehen
über den Gesetzen und wenn die Kommission ihre Arbeit
macht, das mögen wir nicht. Wissen Sie, dahinter steckt
meines Erachtens auch etwas anderes. Das hat mit der Haltung
einiger großer Mitgliedsstaaten zu tun. Frankreich
macht das gelegentlich auch und Großbritannien
gelegentlich auch. Die meinen, die europäischen Gesetze
gelten für die kleineren Mitgliedsstaaten, aber
für die großen soll man nicht nur mit
Fingerspitzengefühl herangehen, sondern soll man auch
die Augen zumachen. Das darf man nicht tun! Die
Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft, das
heißt auch für Deutschland.
Capellan: Ich könnte ja noch andere
Beispiele dafür anführen, dass sich Deutschland
mit Brüssel anlegt. Die Energiemärkte zum Beispiel
sollen nicht geöffnet werden. Deutschland blockiert bei
den Übernahmerichtlinien. Konzernfusionen wurden auf
deutschen Druck hin nicht liberalisiert. In der
Zuwanderungspolitik liegt man quer mit Brüssel. Haben
Sie den Eindruck, dass der Kanzler in der Kommission ein
neues Feindbild sucht? Sie haben den Wahlkampf angesprochen.
Will er sich profilieren, will er antieuropäische
Ängste schüren, um damit Wählerpotenzial zu
gewinnen?
Van Miert: Inwieweit das zutrifft weiß ich
nicht. Einiges könnte schon daran sein. Was am meisten
bedauerlich ist: Wenn man gemeinsame Gesetze macht, wenn man
eine gemeinsame Politik macht, dann muss jeder das
respektieren. Die Kommission hat die Aufgaben bekommen,
darauf zu gucken, dass das tatsächlich auch
stattfindet. Sonst muss die Kommission reagieren, zum
Beispiel im Wettbewerbsbereich. Früher gab es auch
schon viele Schwierigkeiten in Deutschland wie in anderen
Mitgliedsstaaten. Aber wenn das alles zu systematisch
passiert, wenn es allzu viele Beispiele gibt, dass man
eigentlich für sich selbst die ganze Freiheit
vorbehaltet und meint, die anderen sollen sich in
Übereinstimmung mit den europäischen Gesetzen und
den europäischen Spielregeln verhalten, dann ist etwas
nicht in Ordnung. Wenn alle das machen, dann gibt es am Ende
keinen gemeinsamen Markt mehr.
Capellan: Herr van Miert, Sie haben ja in Ihrer
Tätigkeit Schröders Vorgegner Helmut Kohl hautnah
erlebt. War der kooperativer als Schröder heute?
Van Miert: Am Ende hat es auch einige
große Probleme gegeben. Das ist also nicht ganz neu
und ich muss sagen, das passiert nicht alleine in
Deutschland. Das passiert manchmal auch in Frankreich. Das
passiert auch in anderen Mitgliedsstaaten. Wenn alle sich
aber so verhalten, dann gibt es am Ende keinen Binnenmarkt
mehr. Dann wird es sicher auch keine erfolgreiche erweiterte
Europäische Union geben. Ich glaube man versteht nicht
immer, dass die Europäische Union auch eine
Rechtsgemeinschaft ist. Da gibt es Rechtsregeln, die
eingehalten werden müssen. Wenn die Kommission dann
ihre Arbeit macht, dann ist das natürlich nicht immer
populär. Dann wird das gelegentlich auch mal gegen
Brüssel genutzt, für Innenpolitik, für Wahlen
und so weiter. Aber wenn alle das machen, dann muss man wohl
einsehen, dass die Europäische Union auf wackligen
Beinen steht.
Capellan: Fürchten Sie, dass sich diese
schlechte Stimmung in Deutschland gegenüber Europa nun
fortsetzt, zumindest bis zur Bundestagswahl?
Van Miert: Ich fürchte das, ja. Das kann
man wohl befürchten. Hoffentlich nicht, aber das
könnte schon sein.
Capellan: Karel van Miert, der ehemalige
EU-Wettbewerbskommissar heute Morgen im Deutschlandfunk. -
Haben Sie vielen Dank und auf Wiederhören!
Mitgehört hat Friedbert Pflüger,
Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses
für Europäische Angelegenheiten. Die CDU/CSU hat
1998 vielfach gesagt, sie habe Angst um den Europakurs
Deutschlands, um das Erbe von Helmut Kohl. Fühlen Sie
sich nun bestätigt?
Pflüger: Ja, ich finde jedenfalls, dass es
ernste Vorwürfe sind, die wir von Herrn van Mirt
gehört haben. Wir sehen einen gewissen Populismus von
Herrn Schröder. Er hat auch seine Kanzlerschaft so
angefangen, indem er Brüssel vorwarf, unser Geld zu
verbraten und den Euro als Frühgeburt bezeichnete.
Jetzt ist er offenbar wieder in Versuchung, mit
antieuropäischen Ressentiments Wahlkampf zu betreiben.
Das Zeugnis, das Herr van Mirt eben ausgestellt hat, hier
würde Deutschland als großes Land versuchen, mit
politischem Druck Sonderrechte zu erzielen, muss
ernstgenommen werden. Bisher hat Herr Schröder immer
Herrn Stoiber vorgeworfen, er würde Populismus aus
Bayern betreiben. Im Moment hören wir das nur aus dem
Kanzleramt, und das gilt nicht nur für den Blauen
Brief, sondern das gilt für die Binnenmarktgesetze im
Zusammenhang mit dem Automobilkauf. Das gilt in einer Reihe
von anderen Bereichen, z.B. Liberalisierung der
Energiemärkte. Wenn wir hier Sonderrechte haben wollen
und in den Verdacht geraten, von uns selbst aufgestellte
Kriterien, die für alle anderen gelten, nicht zu
befolgen, weil wir in irgendeinem Bereich vermuten, wir
könnten damit kurzfristig Probleme haben, dann werden
wir kein verlässlicher Partner mehr.
Capellan: Also Sie denken im Prinzip auch, dass
Schröder da im Wählerreservoir seines
Herausforderers wildert, denn - Sie haben es selbst gesagt -
Europakritische Töne war man von Edmund Stoiber
gewohnt, aber nicht von Gerhard Schröder.
Pflüger: Ich glaube, dass das mit dem
Wahltermin zu tun hat. Ich bedaure das sehr, denn wir
sollten alles tun, um bei der Europapolitik einen
Sachkonsens zwischen den Parteien zu haben. Das ist immer am
besten für unser Land gewesen, wenn wir einen solchen
Konsens hatten. Und heute hat es der haushaltspolitische
Sprecher der Grünen, Metzger, angemahnt, dass
Schröder nicht Druck auf die Kommission ausüben
soll, keinen Blauen Brief zu schreiben. Herr Eichel hat in
meinem Europaausschuss gesagt, dass er keine Sorge
hätte. Dieser Blaue Brief und die Zeugnisse, die ihm
aus Brüssel ausgestellt würden, würden ihn
ermutigen, seine Sparpolitik fortzusetzen, und nun kommt
Herr Schröder und erklärt, die Kommission habe das
aus politischen Gründen getan. Da kann ich nur sagen,
es entsteht der Verdacht, die Deutschen wollten an den von
ihnen selbst aufgestellten Stabilitätskriterien
herumdeuteln, und man würde damit das Vertrauen in dem
Euro belasten. Also die Bundesregierung wäre klug
beraten, souverän abzuwarten und nicht Wahlkampf zu
betreiben.
Capellan: Nun sollte die Union sicherlich da
nicht auf dem hohen Ross stehen. 3,0 ist 3,0, das war die
Diskussion 1997. Da musste auch Theo Waigel Klimmzüge
machen, um die von den Deutschen aufgestellten
Stabilitätskriterien nicht selbst sofort zu
unterlaufen. Also diese Kritik richtet sich auch gegen die
Union, die nun wiederum Schröder kritisiert.
Pflüger: Aber ich bitte Sie, die Kriterien
gelten für jeden. Dass wir auch unsere Schwierigkeiten
hatten, die 3 Prozent zu erfüllen, weiß jeder.
Aber wir haben sie erfüllt, und wir haben nicht den
Versuch gemacht - und das ist das Entscheidende -, jetzt an
den Kriterien herumzudeuteln. Jetzt haben wir eine neue
Arbeitslosenstatistik, 4,3 Millionen Menschen, sofort wird
wieder an der Statistik herumgedeutelt.
Capellan: Fürchten Sie, dass an den
Kriterien wirklich etwas verändert werden wird?
Pflüger: Nein, auf keinen Fall. Wenn der
Euro stabil bleiben soll, wenn er Vertrauen in der Welt
genießen soll, dann muss man die
Stabilitätskriterien, die man aufgestellt hat, auch
einhalten. Und wenn ein großes Land - vielleicht sogar
das größte und mächtigste Land in Europa -
in Gefahr kommt, diese Kriterien nicht zu erfüllen,
dann ist das ein ernstes Warnsignal. Als solches wird dieser
Blaue Brief verstanden, und da soll man jetzt nicht
politischen Druck ausüben, darum geht es. Aber wir
machen im Moment auf allen Gebieten in Europa keine
überzeugende Politik. Denken Sie an die
Airbus-Entscheidung, wie wir da mit unseren
europäischen Partnern umgehen, denken Sie an die
Bestellung der Mitglieder des Konvents, der jetzt eine
europäische Verfassung ausarbeiten soll, und da ist
für die Bundesregierung Peter Glotz an Stelle von Herrn
Schäuble, der sich viel besser damit auskennt,
nominiert worden.
Capellan: Also das Ganze kommt in den Wahlkampf?
Da sind Sie ganz sicher?
Pflüger: Ich fürchte, dass es in den
Wahlkampf kommt. Ich meine, dass wir alles tun sollten, um
das zu verhindern. Aber wenn man z.B. Leute in den Konvent
aus parteipolitischen Gründen nominiert, die selbst
sagen - im neuesten Spiegel -, ich weiß überhaupt
nicht, warum ich nominiert worden bin, Neigungen zu Europa
habe ich nicht, so Peter Glotz, dann frage ich mich, warum
man ihn überhaupt nominiert, und nicht die wirklich
ausgewiesenen Europa-Experten.
Capellan: Vielen Dank für das Gespräch.
©Deutschlandfunk 2002
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