Interessanter Artikel aus der F.A.Z. vom 18.06.2002

From: Florian Rodeit (florian@rodeit.de)
Date: Tue Jun 18 2002 - 17:46:50 CEST


Freihandelszone oder vertiefter Binnenmarkt?
 
Was wird aus der EU-Erweiterung ? / Von Tabus und Denkschulen berichtet Hajo
Friedrich

BRÜSSEL, 17. Juni. Die Ost-Erweiterung rückt näher. Und immer mehr Bürger
und Unternehmer in Ost und West fragen nach den Folgen. Was kommt mit der
Ausweitung des Binnenmarkts und der Öffnung der Grenzen auf mich zu: auf
meinen Arbeitsplatz, Betrieb oder auchauf mein Privatleben? Von Chancen und
Herausforderungen, von einer "Win-win- Situation" für alle, sprechen
Politiker und Wirtschaftskapitäne vage.

Auf eins können wir uns schon heute einstellen: In den kommenden Monaten und
Jahren wird noch häufig von kleineren Übeln und von verschiedenen
Denkschulen des Integrationsprozesses gesprochen. Auch mit einer Fülle von
Tabuverboten kann die Erweiterung, als das gegenwärtig wichtigste Thema in
der EU-Politik, aufwarten.

Wie sich das Zusammenwachsen Europas unter dem Dach der EU gegenwärtig mit
Ächzen und Krachen gestalte, das sei zwar die schlechteste aller Varianten,
die uns vor zehn Jahren noch zur Verfügung standen, sagte jüngst ein
hochrangiger EU-Politiker hinter verschlossenen Türen. Doch der mühsame Weg,
80 000 Seiten des Besitzstands an Politiken und Regelwerken auf die
Neumitglieder zu übertragen, sei nun einmal eingeschlagen. Jetzt müsse er
trotz aller Schwierigkeiten auch beschritten werden, heißt es.

Als Alternative zu dem gewählten Verfahren bliebe nur das für den
Zusammenhalt Europas fatale Scheitern. Als Tabu gilt, laut über eine
Verschiebung der Erweiterung nachzudenken. Ein Tabu bricht auch, wer etwa
Polen wegen unbotmäßiger Geldforderungen an die EU-Kasse noch nicht für
aufnahmefähig einstuft. Ähnlich wie bei der deutschen Vereinigung, so wird
auch bei der EU-Erweiterung derjenige gebrandmarkt, der den Rechenschieber
anlegt und vor zu hohen Kosten warnt.

Schon jetzt lenkt Bundeskanzler Schröder geschickt den Unmut der Deutschen,
daß sie in einer um viele Armenhäuser erweiterten Gemeinschaft mehr in die
EU-Kasse zahlen müssen, auf die EU-Kommission und die geldgierigen
Partnerländer. Niemand wagt heute auch, die großen Erwartungen der Neuen an
ihre EU-Mitgliedschaft zu dämpfen. Obwohl es als unwahrscheinlich gilt, daß
sich die EU-Erfolgsgeschichten von Irland oder Portugal automatisch in
Mittel- und Osteuropa wiederholen lassen. Bei der EU- Erweiterung gibt es
drei Denkschulen; da sich die zweite und die dritte ergänzen, dürften sie
sich durchsetzen - zu Lasten der ersten. Zu dieser zählen die Befürworter
einer gleichzeitigen Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft. Dazu
gehört das schwindende Häufchen der Politiker vom Schlage des
luxemburgischen Regierungschefs Jean Claude Juncker. Zur zweiten die
Vertiefungsskeptiker, die für eine weitreichende Ausdehnung des Binnenmarkts
eintreten. Dazu zählen vor allem die Briten; aber auch die Amerikaner, die
sich von einer großen, verwässerten EU weniger Konkurrenz auf dem Weltmarkt
versprechen.

Zum dritten gibt es Politiker, die von der zügigen geographischen Ausweitung
der "Erfolgsgeschichte EU" automatisch Wohlstand, Sicherheit und Stabilität
bis in die letzte Ecke Europas erwarten.

Einer ihrer Fürsprecher ist EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD). Die "klare
Botschaft", die jetzt von allen verantwortlichen Akteuren ausgehen sollte,
sagt der Sozialdemokrat, müsse lauten: "Mit der Wiedervereinigung Europas
wird der Raum des Friedens, des Wohlstands und der Sicherheit auf den ganzen
Kontinent ausgedehnt."

So scheint nur die Wahl zwischen zwei Übeln übrigzubleiben: Entweder wir
ziehen die den Kandidatenländern seit Jahren zugesagte EU-Aufnahme schnell
durch - aus politischen Erwägungen und egal, ob die 15 und die
Kandidatenländer auch wirklich für die Erweiterung reif sind. Damit vertagen
wir die schon heute erkennbaren Konflikte um Geld und Einfluß auf das Jahr
2006. Dann wird über die EU-Finanzen der Jahre 2007 bis 2013 entschieden.

Oder die Verhandlungen werden so lange und ohne die für die kommenden Monate
zu erwartende Schlußhektik geführt, bis ein Verhandlungsergebnis mit solidem
Fundament steht - auf die Gefahr hin, daß dann die Zustimmung in Ost und
West zu dem ganzen Unterfangen schwindet.

Da unsere Politiker zu kurzfristigem Denken neigen und die Gemeinschaftsidee
ohnehin keine Konjunktur hat, wird wohl das erstere Übel gewählt. Für viele
EU-Diplomaten gilt der erfolgreiche Abschluß der Beitrittsverhandlungen zum
Jahresende schon längst als beschlossene Sache.
Stolpersteine im Erweiterungsprozeß

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.2002, Nr. 138 / Seite 23





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