From: Marc-Oliver Pahl (info@mopahl.de)
Date: Tue May 13 2003 - 02:19:10 CEST
-------- Original Message --------
Betreff: Neue Reden des Auswärtigen Amtes
Datum: Mon, 12 May 2003 18:44:02 +0200
Von: listmaster@personalpool.auswaertiges-amt.de
Rückantwort: listmaster@personalpool.auswaertiges-amt.de
An: presse@personalpool.auswaertiges-amt.de
"Entwicklung und Kernpunkte der Europäischen Verfassung aus Sicht der Bundesregierung" - Rede von
Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, beim Mittagsgespräch des Instituts
für Europäische Politik am 12. Mai 2003 in Berlin
Am 16. April wurde in Athen - dem Ursprung europäischer
Demokratie und Kultur - der Vertrag zum Beitritt von zehn Ost-
und Südosteuropäischen Ländern zur Europäischen Union
unterschrieben. Unser Kontinent wächst auf der Grundlage von
Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtstaatlichkeit und der Achtung
von Menschen- und Minderheitenrechten zusammen. Gefährliche
Spannungen oder gar ein Krieg werden in weiten Teilen Europas so
gut wie ausgeschlossen sein – ein Zustand, der noch nie in
der langen und oft leidvollen Geschichte des europäischen
Zusammenlebens erreicht wurde. Europas Gewicht und Einfluss in
der Welt werden wachsen. Und durch die Erweiterung wird es einen
Wachstumsschub geben, der die Lebensverhältnisse von Millionen
von Menschen entscheidend verbessert.
Europa ist eine Erfolgsgeschichte: In 50 Jahren hat sich die
Wirtschaftsgemeinschaft der sechs schrittweise zur politischen
Union der 25 entwickelt. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass
die Union nicht an ihrem eigenen Erfolg scheitert, sondern auch
mit 25 und mehr ihre Handlungsfähigkeit bewahrt.
Denn die Erweiterung
und ihre positiven Folgen sind ohne eine Reform der EU nicht
vorstellbar. Eines der ersten und wichtigsten Ergebnisse des
Konvents ist deswegen die Stabilisierung des Beitrittsprozesses.
Nur weil die Europäische Union den Mut hatte, zwei große
Reformprojekte – Erweiterung und Vertiefung –
gleichzeitig in Angriff zu nehmen, konnten beide sich ergänzen
und gegenseitig voranbringen.
Die Erweiterung hat im Konvent
den notwendigen Druck erzeugt, um Veränderungen zu ermöglichen,
die zwar seit langem notwendig sind, an denen vorangegangene
Regierungskonferenzen aber gescheitert waren. Vor genau drei
Jahren – bei der Rede eines Privatmannes in der Berliner
Humboldt Universität - war eine europäische Verfassung noch
eine Vision – heute sind wir uns im Konvent einig, dass es
eine solche Verfassung geben wird, mit der die bisherigen
Verträge zusammengefasst und die Säulenstruktur der EU
überwunden wird. Eine Verfassung, die Ausdruck unserer
gemeinsamen Ziele und Werte sein soll und einen Rahmen bieten
wird für das demokratische, transparente und handlungsfähige
Europa von morgen.
Im Konvent haben wir jetzt die Zielgerade erreicht. Am 24.
April hat das Präsidium seine Vorschläge für die zentralen
Artikel der künftigen europäischen Verfassung vorgelegt. Am
kommenden Donnerstag wird der Konvent mit den Beratungen darüber
beginnen.
Insgesamt hält die Bundesregierung den vom Präsidium
vorgestellten Entwurf für eine gute Grundlage der weiteren
Arbeiten – auch wenn wir im Einzelnen durchaus
Verbesserungsbedarf sehen.
Wichtig ist, dass bereits am Anfang der europäischen
Verfassung die grundlegenden Werte und Ziele der Union stehen
werden. Hierzu zählen Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit - aber auch Ziele wie Frieden, nachhaltige
Entwicklung und die Gleichstellung von Frauen und Männern, für
deren Verankerung wir uns eingesetzt haben. Damit wird gleich zu
Beginn des Verfassungtexts deutlich werden, dass Europa in seinem
Kern nicht nur ein Markt, sondern eine Wertegemeinschaft ist.
Deshalb wollen wir darüber hinaus, dass die Grundrechtecharta
vollständig in die Verfassung integriert wird. Damit würde in
der Verfassung eine umfassende Werteordnung verankert werden, die
neben dem Bekenntnis zu liberalen Freiheitsrechten auch soziale
Rechte und Gleichheitsrechte enthält.
Diese gemeinsamen europäischen Grundwerte werden es uns
erleichtern, auch in Zeiten der Globalisierung das europäische
Sozialmodell zu verteidigen und uns weltweit für nachhaltige
Entwicklung in ihrer wirtschaftlichen, sozialen und
umweltpolitischen Dimension einzusetzen.
Um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union dauerhaft
zu gewährleisten, muss das institutionelle Dreieck - Parlament,
Rat und Kommission – insgesamt gestärkt und sein
Gleichgewicht erhalten werden.
Wir setzen uns für die Wahl des Kommissionspräsidenten durch
das Europäische Parlament ein. Das würde die demokratische
Legitimation der Kommission verbessern und gleichzeitig das
Parlament aufwerten.
Hinzu kommt, dass das Interesse der Bürgerinnen und Bürger
an den Wahlen zum Europäischen Parlament wachsen wird, wenn sich
Ihre Wahlentscheidung auf die personelle Besetzung der Kommission
auswirkt und damit Wahl und Übernahme politischer Verantwortung
auf europäischer Ebene miteinander verknüpft werden.
Der Präsidiumsentwurf sieht vor, das der Europäische Rat dem
EP einen Kandidaten vorschlägt. Kritiker, nicht zuletzt im
Deutschen Bundestag, wenden ein, dass es Sache des Parlaments
sein müsste, allein den Kandidaten zu bestimmen. Wer eine starke
Kommission will – und das ist unser Ziel – und wer die
Kommission begreift als Hüterin des Gemeinschaftsinteresses
einer Union der Staaten und Bürger, der kommt zu dem Schluss,
dass EP und ER gemeinsam im Lichte des Ergebnisses der Europawahl
den Kandidaten auswählen sollten. Das EP wählt und der ER
bestätigt, so sieht unser Vorschlag aus.
Als Hüterin der Verträge und Vertreterin des europäischen
Gesamtinteresses wird die Kommission in einem erweiterten Europa
wichtiger denn je. Wir begrüßen daher, dass der
Präsidiumsvorschlag eine Begrenzung der Zahl der Kommissare auf
15 vorsieht, um die Funktionsfähigkeit der Kommission als
Kollegium zu erhalten. Auch die Beneluxstaaten haben diesem
Vorschlag inzwischen zugestimmt. Wichtig ist uns auch das
ausschließliche Initiativrecht der Kommission – mit ganz
wenigen Ausnahmen bei der polizeilichen Zusammenarbeit und im
Bereich der Außenpolitik.
Und auch der Vorschlag des Präsidiums, das
Mitentscheidungsverfahren - in dem Rat und Parlament
gleichberechtigte Gesetzgeber der Europäischen Union sind - zum
Regelfall europäischer Gesetzgebung zu machen, findet unsere
Unterstützung. Auch dies stärkt die Wahrung des
institutionellen Gleichgewichts in Europa.
Ein dauerhafter Vorsitzender des Europäischen Rates soll die
Kontinuität der europäischen Politik verbessern. Wir
befürworten daher die Verankerung eines auf mehrere Jahre
gewählten Vorsitzenden des Europäischen Rats in der Verfassung.
Dabei muss es jedoch eine klare Abgrenzung zu den Aufgaben der
Kommission und ihres Präsidenten geben, um die Balance im
institutionellen Dreieck zu wahren.
Da der gewählte Vorsitzende des Europäischen Rats die
Aufgaben des bisher turnusmäßig wechselnden Vorsitzenden des ER
übernehmen – der ER aber keine neuen Kompetenzen bekommen
soll – bedarf es auch keines Unterbaus in Form eines
Präsidiums. Das nährt nur Sorgen vor einer zweiten Exekutive in
Konkurrenz zur Kommission. Wir haben uns deswegen für eine
Streichung dieses Abschnitts im Präsidiumsvorschlag
ausgesprochen.
Als Vertretung der Staaten auf europäischer Ebene wird der
(Minister)-Rat weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Damit er
auch in einer Union mit 25 oder mehr Mitgliedern handlungsfähig
bleibt, müssen Entscheidungen im Rat zukünftig grundsätzlich
mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. In der Praxis
würden dadurch auch Vetodrohungen sinnlos werden und der Zwang
zu kooperativem Verhalten wachsen.
Die Gesetzgebungsarbeit soll zudem in Zukunft ein
Legislativrat leisten, der, wie eine zweite Kammer in föderalen
Staaten, öffentlich tagt. Damit würde die Gewaltenteilung in
der Union konsequenter und sichtbarer vollzogen.
In Europa geht es, wie Willy Brandt schon vor über dreißig
Jahren feststellte, nicht darum, die nationalen Einheiten
einzuebnen, sondern ihre Identitäten zu bewahren und ihre
Kräfte zu einem neuen Ganzen zusammenzufassen. Europa ist
insofern kein "Schmelztiegel", sondern eine Union, die
gerade wegen ihrer inneren Vielfalt attraktiv und stark ist.
Durch eine Stärkung des Subsidaritätsprinzips - an dessen
Einhaltung die Kommission bei der Ausübung ihrer Kompetenzen
gebunden werden soll – erreichen wir, dass diese Vielfalt
gewahrt bleibt und zukünftig nur solche Entscheidungen auf
europäischer Ebene fallen, die nicht besser auf lokaler,
regionaler oder nationaler Ebene getroffen werden können. Dies
sichert zugleich Transparenz und Bürgernähe in Europa. Bei
einem Verstoß gegen das Subsidaritätsprinzip sollen der
Ausschuss der Regionen und – nach deutscher Überzeugung -
auch beide Kammern der nationalen Parlamente ein Klagerecht
erhalten.
Die angestrebten institutionellen Reformen werden die EU
handlungsfähiger und transparenter machen. Auch die Verfahren
müssen vereinfacht werden, um diesen Zielen zu genügen.
Statt 15 Rechtsakten, die fast niemand überschaut, soll es
zukünftig noch sechs geben: Das verschachtelte und in seiner
Systematik schwer verständliche Unionsrecht soll drastisch
vereinfacht und einer klaren Normenhierarchie unterworfen werden,
die zwischen legislativem Akt und Verwaltungsentscheidung
deutlich unterscheidet. Damit werden klare politische
Verantwortlichkeiten zugewiesenen und die Struktur des
europäischen Verwaltungshandelns wird von unnötigem Ballast
befreit. Europa wird einfacher und transparenter werden.
Die Irak-Krise und die Ereignisse der letzten Wochen haben
gezeigt, dass wir auch im Bereich der Außen- und
Sicherheitspolitik Strukturen entwickeln müssen, in denen wir
als Europäer unseren politischen Willen gemeinsam bilden können
– und die Mechanismen, mit denen wir den europäischen
Werten und Überzeugungen Geltung verschaffen – in Europa
und darüber hinaus.
Darum setzen wir uns für einen europäischen Außenminister
ein, der der Außenpolitik der Union Gesicht und Stimme gibt und
für eine einheitliche europäische Außenpolitik Sorge trägt.
Dieses neue Amt im Verfassungsentwurf verankert zu haben –
und wir hoffen auf einen Konsens - ist allein schon ein großer
Erfolg der Konventsarbeit.
Um in Zukunft eine Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten
sicherzustellen, bevor diese auf internationaler Ebene eine
Maßnahme ergreifen, sollen die Pflicht zur gegenseitigen
Konsultation und das Prinzip der Solidarität in der Verfassung
verankert werden. Der Präsidiumsvorschlag sieht außerdem den
Übergang zu Mehrheitsentscheidungen für wichtige Teilbereiche
der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vor. Ich halte
gerade dies für entscheidend, damit die erweiterte Union auch
mit 25 Staaten außenpolitisch handlungsfähig wird.
Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, dass die Antwort auf
die Irak-Krise nicht weniger Amerika, sondern mehr Europa lautet.
Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten verbessern, um im Sinne
wirklicher Partnerschaft den europäischen Pfeiler des
transatlantischen Bündnisses zu stärken.
Mit dem Vorschlag des Vierer-Gipfels knüpfen wir an frühere
Intiativen Frankreichs, Deutschlands aber auch Großbritanniens
an. Wir wollen das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit in
der ESVP nutzen, damit eine Avantgarde die Integration auch in
diesem Bereich verantreibt. Nicht als closed shop, sondern in
einem offenen Prozess, an den sich alle heutigen und zukünftigen
Mitgliedsstaaten der EU beteiligen können. Und, ich bin sicher,
das bestätigen zahlreiche Gespräche, nicht zuletzt das
informelle Außenminister-Treffen vor wenigen Tagen, dass sich
viele beteiligen werden.
Nur so hat die EU eine Chance, zu einem wirklichen Partner der
USA bei der Wahrnehmung globaler Verantwortung zu werden, der in
diese Partnerschaft seine eigenen, spezifischen Erfahrungen
einbringt.
Zu diesen Erfahrungen gehört das Leid durch Krieg auf dem
eigenen Kontinent, im eigenen Land. Aber auch der friedliche
Interessensausgleich, der weltweit für viele Regionen
Modellcharakter hat.
Wo wir bereits stark integriert agieren: in der Handels- oder
Währungspolitik, im Binnenmarkt – ist Europa stark. In der
Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir stärker werden. Doch
auch im Innern gilt es, unsere Werte zu schützen.
Globalisierungstendenzen gibt es längst auch in der
organisierten Kriminalität oder im Terrorismus. Es muß daher
eine bessere Zusammenarbeit geben, um diesen Gefahren
wirkungsvoller als bisher begegnen und unsere Bürgerinnen und
Bürger vor ihnen schützen zu können.
Im Konvent setzen wir uns dafür ein, die polizeiliche und
justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu verbessern und eine
europäische Angleichung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu
erreichen. Wir plädieren auch dafür, dass eine europäische
Staatsanwaltschaft eingeführt wird, die schwere,
grenzüberschreitende Verbrechen verfolgen und vor nationalen
Gerichten anklagen könnte. Denn wenn Verbrechen vor nationalen
Grenzen nicht Halt machen, darf dies auch die Strafverfolgung
nicht tun.
Auch die Sicherung der europäischen Außengrenzen soll nach
unseren Vorschlägen zukünftig gemeinsam erfolgen, um so die
Möglichkeiten zu verbessern, illegale Immigration, Drogenhandel,
Menschenhandel oder Terrorismus wirkungsvoller zu bekämpfen.
Schon in wenigen Wochen soll der Konvent
den Staats- und Regierungsschefs einen Verfassungsentwurf
vorlegen. Ich bin der Meinung, dass wir den vorgesehenen Zeitplan
unbedingt einhalten sollten. Nur so kann der Einigungsdruck
aufrechterhalten werden, können wir echte Fortschritte erzielen.
Auch die anschließende Regierungskonferenz sollte kurz sein und
sich nicht in Detaildiskussionen verlieren.
Mit einem erfolgreichen Konvent zeigen wir auch, dass
Transparenz und breite Partizipation an Entscheidungen über
Europas Zukunft effektive Ergebnisse fördern. Der Konvent
spiegelt die innere Vielfalt der Mitgliedstaaten wieder, denn in
ihm diskutieren und entscheiden nicht allein die
Regierungsvertreter, sondern auch Repräsentanten der nationalen
Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Kommission.
Dies fördert die inhaltliche, argumentative
Auseinandersetzung und das gegenseitige Verständnis. Schon
bisher wurden auf diese Weise Ergebnisse erreicht, die mehr sind
als Kompromisse auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Die
Konventsmethode hat sich bewährt und sollte deswegen auch bei
zukünftigen Verfassungsänderungen zur Regel werden.
Dynamik und Kraft der europäischen Ideen werden durch die
Erweiterung und in den Ergebnissen des Konvents sichtbar. Würden
wir diese Chance nicht nutzen, fiele die erweiterte EU zurück
auf einen großen Binnenmarkt. Für uns ist Europa jedoch mehr
als ein Markt.
Erweiterung und Vertiefung bieten uns die einmalige
Möglichkeit, die Folgen des zweiten Weltkrieges und die Spaltung
Europas endgültig zu überwinden. Wir stehen am Beginn der
Entwicklung eines neuen, emanzipierten Europa. In der Irak-Krise
wurde deutlich, dass es in der Bevölkerung über alle nationalen
Grenzen hinweg ein gemeinsames europäisches Bewusstsein gibt.
Darauf können wir, darauf müssen wir, darauf werden wir
aufbauen.
Deutsche
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