Ein diplomatisches Trauerspiel für Europa

From: Kai Drewes (k.drewes@tu-bs.de)
Date: Wed Nov 28 2001 - 03:14:33 CET


Ein diplomatisches Trauerspiel in Europa
Taiwans Präsident kann Freiheitspreis nicht persönlich entgegen nehmen

Der taiwanesische Staatspräsident Chen Shui-Bian wird den ihm von der Liberalen Internationalen verliehenen "Preis der Freiheit" nicht persönlich in Empfang nehmen können. Die französische Regierung ist nicht bereit, ihre Entscheidung, ihm das Visum zu verweigern, zu überdenken. Nun soll Shui-Bians Ehefrau den Preis in Straßburg stellvertretend in Empfang nehmen. Aber auch ihr wurde zunächst noch keine Einreiseerlaubnis erteilt.
Wie aus der Taiwan-Parlamentarierdelegation des EU-Parlaments verlautete, wurde ihr inoffiziell jedoch von Paris das Visum für die Zeit nach dem 8. November zugesagt, wenn der Besuch von Hu Jintao, des aussichtsreichsten Kandidaten für die Nachfolge Jiang Zemins als Präsident der Volksrepublik China, beendet sei.
Hu Jintao war maßgeblich an der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens beteiligt und trat erst im Sommer bei den Feiern zum 50. Jahrestag der "Befreiung Tibets" in den Medien besonders hervor.
Die Preisverleihung sollte ursprünglich in Kopenhagen stattfinden. Aber die dänische Regierung hatte ebenfalls kein Visum erteilt, obwohl der Besuch Shui-Bians als privat deklariert worden war. Auch Dänemark hat sich wie die meisten Länder der Doktrin Pekings gebeugt, wonach Taiwan eine abtrünnige Provinz ist, zu der keine offiziellen Beziehungen unterhalten werden dürfen.
Die Regierung in Kopenhagen begründete auf Anfrage die strikte Erfüllung der Pekinger Forderungen selbst bei diesem privaten Anlass mit eindeutigen EU-Absprachen. Damit rückt die Europäische Union offenbar endgültig von ihrer früheren Maxime ab, dass in den Beziehungen zu Drittstaaten den Ländern ein Bonus eingeräumt werden sollte, die sich dem Prinzip der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit verschrieben haben.
Ausgerechnet ein Präsident, der viel dazu beigetragen hat, dass sein Land diesen in Asien nicht sehr weit verbreiteten Anspruch voll erfüllt, und der dafür ausgezeichnet wird, dass er zusätzlich eine friedliche Annäherung an Peking sucht, wird nun als Aussätziger behandelt, meinte ein Mitglied der liberalen Fraktion in Straßburg, das aber auch nicht namentlich genannt werden will.
Denn keine Fraktion möchte angesichts der Anti-Terror-Koalition, in die Peking eingebunden ist, derzeit den Fall an die große Glocke hängen, schon gar nicht die französische Parlamentspräsidentin Nicole Fontaine. Selbst der Affront der französischen Regierung, den exterritorialen Charakter des Europäischen Parlaments in Straßburg zu missachten, wird schulterzuckend zur Kenntnis genommen.
Der internationale Verbund liberaler Parteien hatte den Ort der Preisverleihung von Kopenhagen deshalb nach Straßburg verlegt, weil Frankreich verpflichtet ist, jedem Gast des Parlaments die Reise zum Parlament zu ermöglichen. Aber selbst die Liberalen in Straßburg mochten nicht mit einem Protest an die Öffentlichkeit gehen.

(aus: Das Parlament, Nr. 47 vom 19.11.2001, S. 6)

Kai Drewes
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