Würzburger Konventsbeschluß

From: David Schneider-Addae-Mensah (addaeme@yahoo.de)
Date: Thu May 23 2002 - 11:03:12 CEST


Hallo Leute,

anbei unser Beschluß zum Verfassungskonvent, in dem
wir unsere Vorstellungen vom weiteren Vorgehen bei der
europäischen Verfassungsgebung darlegen.

Ich finde, der BA hat ganze Arbeit geleistet und das
ist wirklich eine recht runde erste Positionierung der
JEF-Deutschland zu den inhaltlichen Fragen des
Konventsprozesses.
Für Anregungen, Diskussion und Kritik sind wir immer
offen.

Viele Grüße

David

    BA 02-02
BUNDESAUSSCHUSS
DEUTSCHE SEKTION

WÜRZBURG, 09.-12.05.2002
        Beschluß

JEF-Bundessekretariat
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Fon:030/42809035; Fax: 030/42809036; E-mail:
info@jef.de
Internet: http://www.jef.de

Eine europäische Demokratie errichten!

Die Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland
fassen folgenden Beschluß zum laufenden euro-päischen
Verfassungsprozeß:

Nach den schlechten Ergebnissen des Europäischen Rats
in Nizza, der ein letztes Mal bewiesen hat, daß das
nationale Geschachere auf der Regierungskonferenz
klassischen Typs sogar ein Rückschritt für die
europäische Integration sein kann, haben auch die
Staaten eingesehen, daß es jene national-gesteuerten
Konferenzen in dieser Form nicht mehr länger geben
darf.

Auf ihrem EU-Gipfel in Laeken haben sie daher im
vergangenen Dezember erfreulicherweise den von uns
schon seit langem geforderten Konvent zur Vorbereitung
der nächsten Vertragsrevision be-schlossen. Dieser
stellt in seiner Zusammensetzung aus indirekt
gewählten Abgeordneten und Exe-kutivvertretern einen
erheblichen Fortschritt zu den diplomatischen
Geheimkonferenzen alter Tage dar und repräsentiert die
künftige Union der Bürger und der Staaten bereits im
Ansatz repräsentiert.

Wir begrüßen besonders, daß sich die Rolle des
Konvents ausweislich der Erklärung von Laeken nicht
auf die Rolle des bloßen Vertragsrevisors beschränkt,
sondern er ein umfassendes Mandat zur Ausarbeitung
einer europäischen Verfassung erhalten hat.

I. Unabänderliche Verfassungsgrundsätze

Europa und seine Verfassung fußen auf den
unabänderlichen Grundsätzen der Demokratie, des
Fö-deralismus, der Rechtsstaatlichkeit, des
Umweltschutzes und der Menschenwürde.

II. Demokratische Entscheidungsstrukturen als zentrale
Aufgabe des Verfassungskonvents

Auch wenn die europäische Integration mit einem direkt
gewählten Parlament, einem integrations- und
bürgerfreundlichen Europäischen Gerichtshof und einer
Kommission als Hüterin des gemein-schaftlichen
Besitzstandes heute schon weitgehende integrierte
Strukturen besitzt, die sie von Inter-nationalen
Organisationen klassischen Typs unterscheiden, ähnelt
ihr Entscheidungsaufbau noch immer stark jenem
klassischer Organisationen; treffen nach wie vor die
Staaten mit ihren Ministern die maßgeblichen
Entscheidungen im besten Fall unter bloßer Beteiligung
des Europäischen Parla-ments. Demokratie, Effizienz
und Transparenz sind jedoch die Grundlage für eine
zukunftsfähige Europäische Union. Deshalb muß die
Schaffung demokratischer Entscheidungsstrukturen im
Mittel-punkt der Arbeit des europäischen
Verfassungskonvents stehen.

Eine direkt gewählte Bürger- und eine mit
Regierungsvertretern bestückte Staatenkammer anstelle
der aktuellen Institutionen Parlament und Rat, wie
jüngst wieder von Bundespräsident Rau gefor-dert,
repräsentiert die Union von Bürgern und Staaten,
welche die heutige Union der Staaten ablö-sen muß.
Zentrale Akteure müssen aber auch in einem solch
föderalen Verfassungsaufbau die Bür-ger sein. Die
Kammern sind bei der Gesetzgebung grundsätzlich
gleichberechtigt.
Die Bürgerkammer sollte zudem zumindest zum Teil über
europäische Listen gewählt werden und ebenso wie die
Staatenkammer nach dem für Demokratien
selbstverständlichen Mehrheitsprinzip entscheiden.
Das Gesetzesinitiativrecht liegt jeweils bei den
beiden parlamentarischen Kammern und bei der
Kommission/Regierung.

Die Bürgerkammer sollte auch das Recht zur Wahl eines
europäischen Regierungschefs aus der Mitte der
Mehrheitsfraktion oder möglicher Koalitionsfraktionen
haben. Zusammen mit seinen von ihm vorgeschlagenen und
ebenfalls vom Europäischen Parlament gewählten
Regierungsmitgliedern sollte er eine dem Parlament
verantwortliche Europäische Regierung bilden, welche
die heutige EU-Kommission ablöst.

Dem Europäischen Gerichtshof kommt neben seiner auch
bisher schon ausgeübten Rolle des unab-hängigen
Wahrers der europäischen Rechtseinheit auch die Rolle
eines Verfassungsgerichts, inklusi-ve eines Bewahrers
der europäischen Grundrechte zu.

III. Bürgerrechte für die Europäerinnen und Europäer
  
Der gescheiterte Nizza-Gipfel hat der zuvor ebenfalls
mittels des Vorbildmodells Konvent geschaffe-nen
EU-Grundrechtscharta keine Rechtsverbindlichkeit
verliehen. Auch wenn die Charta in der Rechtspraxis
von Kommission, EuGH und einigen mitgliedstaatlichen
Gerichten dennoch durchaus berücksichtigt wird, ist
ihre formelle Rechtsverbindlichkeit unabdingbar für
eine demokratische euro-päische Verfassung.
Die Grundrechtscharta muß Kernstück der vom Konvent zu
schaffenden Verfassung sein und von jedermann
eingeklagt werden können.

IV. Klare Zuständigkeiten für ein föderales Europa

Europas Reichtum besteht in der Vielfalt seiner
Länder, Menschen und Kulturen. Europas Stärke be-steht
in seiner Gemeinschaftlichkeit.
Europa braucht daher einen einheitlichen
rechtlich-gesellschaftlichen Rahmen, der seine
Gemein-schaftlichkeit sichert und gleichzeitig seine
Vielfalt schützt. Nur ein föderales Gebilde kann dies
lei-sten. Es ermöglicht die effektive und rasche
Aufgabenerfüllung dort, wo es am sinnvollsten ist und
schafft so Vertrauen für seine Bürgerinnen und Bürger.

Subsidiarität im Rahmen einer verfassungspolitischen
Zuständigkeitsverteilung muss als Prinzip ver-standen
werden, dass die Zuständigkeiten im Sinne einer
föderalen Balance verteilt. Mithin ist es keine
Einbahnstraße, sondern muss sowohl die Übertragung wie
die Rückverlagerung von Kompe-tenzen erlauben. Ein
möglichst bürgernahes Europa bedeutet, dass Aufgaben
möglichst von den unteren Ebenen wahrgenommen werden,
wo Entscheidungen erheblich besser nachvollziehbar
sind. Sprechen Effizienz und Notwendigkeit für ein
Handeln der EU, sind Aufgaben auf diese Ebene zu
übertragen. Entscheidend für die Bürgernähe ist nicht
die politische Ebene auf der gehandelt wird, sondern
die demokratische Ausgestaltung der
Entscheidungsprozesse auf dieser Ebene.

Die JEF Deutschland fordert eine verbindliche
Festschreibung der EU-Kompetenzen in der zu
schaf-fenden föderalen europäischen Verfassung. Eine
bloß unverbindliche “Festschreibung” birgt
genau jene häufig beschworene Gefahr eines Abwanderns
von Kompetenzen auf zumeist die “höhere”
Ebe-ne.
Die Kompetenzordnung sollte so knapp wie möglich
gehalten werden und nur die europäischen Kompetenzen
festschreiben. Die Kompetenzverteilung auf den unteren
Ebenen sollte nicht EU-Kompetenz sein, sondern den
unteren Ebenen überlassen bleiben. Das
völkerrechtliche Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung sollte durch das Prinzip der
Souveränitätsteilung zwischen Bürgern und Staaten
ersetzt werden, wie es auch im Verfassungskonvent und
in der von uns geforderten reformierten
Parlamentsstruktur zum Ausdruck kommt.

Zu unterscheiden ist zwischen der Zuständigkeit für
die Legislation und jener für die Exekution. Von
entscheidender Bedeutung für die Frage der vertikalen
Kompetenzverteilung ist erstere. Die
Ver-waltungszuständigkeit sollte grundsätzlich bei den
Staaten liegen. Nur in den exklusiv der EU
zuge-wiesenen Gesetzgebungsmaterien sollte auch die
europäische Föderalebene einen eigenen
Verwal-tungsunterbau errichten dürfen.
Um die Übersichtlichkeit und Transparenz zu wahren,
fordert die JEF auf europäischer Ebene zwei Arten von
Legislativkompetenzen (Kompetenzkategorien):

 Eine ausschließliche europäische
Zuständigkeit; in diesen Bereichen sind die
Mitgliedstaaten in jedem Fall von der Gesetzgebung
ausgeschlossen.

 Eine europäische Zuständigkeit für
Teilbereiche; hier teilen sich Europa und
Mitgliedstaaten gegenseitig die Zuständigkeit für
einen größeren Sachbereich, wobei dennoch jeder für
klar abgegrenzte Teilbereiche zuständig ist. Die
– insofern aber ebenfalls ausschließliche -
euro-päische Zuständigkeit beschränkt sich in diesen
Bereichen auf alle grenzüberschreitenden Teilbereiche,
während die Mitgliedstaaten für die Teilbereiche von
rein innerstaatlichem In-teresse zuständig bleiben.

Im Einzelnen fordern wir:

Eine ausschließliche europäische
Gesetzgebungszuständigkeit

 für die Politik des Auswärtigen, des
Grenzschutzes, der Entwicklungshilfe, der
Verteidi-gunspolitik und Interventionspolitik im
Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme;

 für die europäische Staatsangehörigkeit, die
als Hauptstaatsangehörigkeit vor die derzeitigen
nationalen Staatsangehörigkeiten tritt, inklusive
Paßwesen, Migration, Asylrecht und Auslie-ferung;

 für den Bereich der Wirtschafts- und
Währungspolitik, der Landwirtschafts- und
Fischereipoli-tik, wo das Funktionieren des
Binnenmarktes gewährleistet werden muss sowie für die
wirt-schaftliche Struktur und Regionalpolitik und den
Verbraucherschutz;

 für Zoll- und Handelspolitik;

 für Arbeitsmarktpolitik;

Die JEF Deutschland fordert eine europäische
Gesetzgebungszuständigkeit für Teilbereiche

 in der Sicherheitspolitik (Kriminalität,
soweit zumindest die Grenze eines herkömlichen
Natio-nalstaats überschritten wird);

 für die Grundsätze des Schul- und
Hochschulwesens; hierzu zählen der Sprachunterricht,
der Geschichts- und Politikunterricht, die
Ausbildungszeiten, das Schulsystem, die
berufsbilden-den Abschlüsse, Ausbildungsbeihilfen und
die wissenschaftliche Forschung;

 für den Umwelt- und Naturschutz und
Energiepolitik, soweit zumindest die Grenze eines
her-kömlichen Nationalstaats überschritten wird;

 für Steuerpolitik;

 in Fragen der Mobilität zwischen
Sozialsystemen. Das Betrifft in erster Linie Renten,
Gesund-heits- und Arbeitslosigkeitsansprüche. Die
Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme verbelibt
den Mitgliedsstaaten und ihren Untergliederungen;

 in der Jugendpolitik für alle europaweiten
Sachverhalte, inklusive europaweit agierender
Ju-gendverbände; gleiches gilt für die europäische
Zivilgesellschaft insgesamt;

 in der Verkehrspolitik für den Luftverkehr,
die großen europäischen Eisenbahn- und Straßen-netze
(Hochgeschwindigkeits- und Transrapidstrecken der
Bahn, Autobahnen) sowie die Bin-nenwasserstraßen;

 in der Datenverkehrs-/Internetpolitik

Alle anderen Bereiche sollten in mitgliedstaatlicher
Gesetzgebungszuständigkeit verbleiben.

V. Überwindung des Nationalstaats

Auf längere Sicht wird auch die Bedeutung der
europäischen Staaten ab- und jene der Regionen und der
Föderalebene zunehmen. Das souveränitätsteilige System
ist daher ein Ansatz zur Überwindung des
Nationalstaats zugunsten eines föderalen europäischen
Modells mit starken Regionen an. Des-halb fordern wir
gerade in der laufenden europäischen
Verfassungsdebatte die Einbeziehung der Regionen in
den künftigen europäischen Entscheidungsprozeß.

VI. Forderungen an den Verfassungskonvent

Die Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland
fordern den europäischen Verfassungskonvent dazu auf,
die oben genannten Vorschläge in seine Arbeit
einzubeziehen. Die Beteiligung der europäi-schen
Zivilgesellschaft, die wir im Jugendbereich
mitvertreten, an dem europäischen Verfassungs-prozeß
ist ein essentielles Element der künftigen europäische
Demokratie. Wir fordern den Konvent daher zur
sorgfältigen Prüfung und Beherzigung der von Seiten
der europäischen Zivilgesellschaft eingebrachten
Vorschläge auf.

Wir rufen den Verfassungskonvent auf den europäischen
Verfassungsprozeß so zügig wie möglich, auf jeden Fall
aber vor der Erweiterung zu einem erfolgreichen
Abschluß zu bringen. Er ist Voraus-setzung für die
Handlungsfähigkeit eines erweiterten demokratischen
Europa.

Wir fordern den Verfassungskonvent auf, sich nicht
durch die staatliche Beschlüsse einengen zu las-sen
und sein Arbeitsergebnis an der nächsten
Regierungskonferenz auszurichten. Nicht der Wille der
Staats- und Regierungschefs darf bei der Schaffung
einer föderalen europäischen Verfassung maß-geblich
sein. Sie ist ein Vertrag zwischen Bürgern und Staaten
und muß daher auch von Bürgern und Staaten beschlossen
werden. Der Verfassungskonvent in seiner
bürgerlich-staatlichen Repräsentanz ist daher
prädestiniert für eine Annahme des Textes.
Wir wünschen uns daher eine Eigendynamik des Konvents,
der sein Arbeitsergebnis am Ende ohne Rücksicht auf
eine intergouvernementale Konferenz beschließt und
anschließend den europäischen Bürgerinnen und Bürgern
in einem europaweiten Referendum zur Abstimmung
vorlegt.

VII. Verfassungsänderungen

Die Schaffung einer europäischen Verfassung ist ein
einmaliger Rechtssetzungsakt, der sich in dieser Form
bei Gelingen des Projekts nicht wiederholen wird.
Wie in jeder Verfassungsordnung sind jedoch auch in
der europäischen Verfassungsordnung Weiter-entwicklung
und Veränderung normal.
Die JEF Deutschland fordert für künftige
Verfassungsänderungen den normalen parlamentarischen
Weg. Von einigen unabänderlichen Prinzipien abgesehen,
sollten Änderungen der künftigen Verfas-sung von
beiden Kammern des Europäischen Parlamentes in einem
Verfahren vorgenommen wer-den.
Wir wenden uns in diesem Zusammenhang auch gegen die
sog. Europäischen Räte oder EU-Gipfel, die nach einem
eigendynamischen Abschluß der Konventsarbeit an der
Verfassung jegliche politische Bedeutung zur weiteren
Entscheidungsfindung auf der europäischen Ebene
verloren haben werden.

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David Schneider-Addae-Mensah
Bundesvorsitzender Junge Europäische Föderalisten D
President JEF-Germany
Claudiusstraße 28
D-22041 Hamburg
Tel.: 040/68 91 68 60
Mobil: 0172/4324592

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