FTD Verfassung

From: Jan Seifert (email@jan-seifert.de)
Date: Sat Apr 20 2002 - 22:09:58 CEST


schon ein bißchen älter aber recht gut, kompakt und nicht so
intergovernmental wie der entwurf des Economist.

Aus der FTD vom 15.6.2001
FTD-Manifest: Auf dem Weg zu einer Europäischen Verfassung

Nur wenn sich die EU grundlegend reformiert, kann sie die Erfolgsgeschichte
ihrer Integration fortsetzen. Die Financial Times Deutschland schlägt vor,
was sich ändern sollte, um die Einigung voranzubringen.

Europa steht an einem Wendepunkt. Innerhalb von 50 Jahren hat sich auf
unserem Kontinent eine Gemeinschaft entwickelt, die Frieden, Stabilität und
Wohlstand schafft. Europas Staaten gestalten heute beachtliche Teile ihrer
Politik gemeinsam. In der Währungsunion gibt es keine nationalen
Volkswirtschaften mehr. Die Staatsgrenzen haben im Binnenmarkt kaum noch
Bedeutung.

Die Geschichte der europäischen Integration ist weitgehend eine
Erfolgsgeschichte. Eine ganze Reihe von Staaten, vor allem aus Osteuropa,
will daran teilhaben und der Gemeinschaft beitreten. Die Errungenschaften
der Vergangenheit können jedoch nur gesichert werden, wenn die
Mitgliedsstaaten den Mut und die Weitsicht aufbringen, die Europäische
Union grundlegend zu reformieren. Sonst scheitert die Gemeinschaft an ihrem
eigenen Erfolg.

Vielerorts wächst die Kritik daran, dass die europäischen Institutionen zu
mächtig werden und sich nicht mehr kontrollieren lassen. Die Geldpolitik,
das Wettbewerbsrecht und die Handelspolitik liegen heute ganz oder
weitgehend in den Händen der Gemeinschaft. In der Außen- und
Sicherheitspolitik arbeiten die Mitgliedsstaaten freiwillig zusammen, ohne
Brüssel bislang Kompetenzen übertragen zu haben. In vielen anderen
Bereichen sind die Aufgaben geteilt.

Die Integration hat inzwischen einen Punkt erreicht, an dem die
europäischen Staaten klarstellen müssen, welche Aufgaben sie weiter selbst
bewältigen wollen. Es reicht aber nicht, die Kompetenzen zwischen den
Staaten und der EU besser abzugrenzen. In der Öffentlichkeit muss
deutlicher werden, welcher Politiker für welchen Beschluss steht - und wie
man ihn abwählen kann. Nur so lässt sich die demokratische Legitimität stärken.

Dezentralisieren

Mitunter hat sich die Europäische Union zu stark in Bereiche eingemischt,
die die Mitgliedsstaaten besser selbst regeln können. Eine flächendeckende
Rechtsharmonisierung ist unnötig. Zu oft haben Europas Gesetzgeber blind
oder bequem auf Vereinheitlichung gesetzt - und Europaskeptikern damit gute
Vorlagen geliefert. Ob Milch für den Käse erhitzt werden muss oder welches
Fett in die Schokolade gehört, sollten die Mitgliedsstaaten selbst regeln.
Nur so kann auf regionale Traditionen Rücksicht genommen und eine
ineffiziente Überregulierung vermieden werden.

EU-weite Verbraucherschutzregeln sind nur bei Gütern und Dienstleistungen
nötig, die grenzüberschreitend gehandelt werden. Und oft ist eine
europäische Kennzeichnungspflicht besser als ein Verbot.

Die Europäische Union ist heute schon stärker integriert, als viele denken.
In wichtigen Fragen, wie dem Schutz von Bürger- und Menschenrechten, haben
ihre Mitgliedsstaaten weniger Spielraum als die Staaten der USA.

Unterschiede in der Rechtsordnung können in der Tat Reibungsverluste
erzeugen. Doch solange eine lokale Rechtsordnung weder den Binnenmarkt noch
die Handlungsfähigkeit oder den Zusammenhalt der EU schwächt, muss sie
unangetastet bleiben.

Stärker kooperieren

Es gibt jedoch Bereiche, in denen nur gemeinsames Handeln Erfolg
verspricht. So braucht die Europäische Union eine effektivere gemeinsame
Außenpolitik . Der Einfluss Europas auf das globale Geschehen bleibt
unverhältnismäßig gering, solange europäische Repräsentanten nicht für alle
Mitglieder sprechen und entscheiden können.

Eine EU von bald 30 Staaten bleibt als globaler Akteur unsichtbar, wenn
sich jede Regierung eine autonome Außen-, Sicherheits- und
Außenfinanzpolitik leistet. Selbst größere Mitgliedsstaaten wie
Großbritannien, Frankreich oder Deutschland finden nur wenig Gehör, wenn
sie alleine auftreten.

Die EU braucht zudem eine eigene Verteidigung . Die Neutralität einzelner
Mitglieder widerspricht der Solidarität in der Europäischen Union. Die
Vorstellung ist absurd, dass EU-Staaten einem militärischen Angriff auf
Mitglieder der Gemeinschaft unter Berufung auf ihre Neutralität tatenlos
zusehen.

Mehr Zusammenarbeit ist auch bei der nationalen Fiskalpolitik in der
Eurozone erforderlich. Langfristig wird der Euro nur Erfolg haben, wenn
sich die Mitglieder in ihrer Haushaltspolitik aufeinander abstimmen. Der
bestehende EU-Vertrag erkennt dies an; Konsequenzen werden daraus aber kaum
gezogen. Das institutionelle Fundament des Euro ist deshalb
krisenanfälliger als das anderer Währungen. Das mindert das Vertrauen in
den Euro.

Die Währungsunion verlangt mehr, als übermäßige Defizite zu begrenzen. Es
muss Mechanismen geben, um eine der gesamten Euro-Zone angemessene
Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Dazu müssen die Partner das Recht
bekommen, jedem Mitglied der Euro-Zone verbindliche Rahmenvorgaben zu machen.

Der EU-Haushalt muss an die gewachsene Rolle der Gemeinschaft angepasst
werden. Derzeit nimmt er nur 1,09 Prozent der Wirtschaftsleistung aller
Mitgliedsstaaten in Anspruch. Das von der Europäischen Union verwaltete
Finanzvolumen steht damit in krassem Missverhältnis zur Bedeutung der
Union. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments wird die Wähler erst
dann wirklich interessieren, wenn es über Steuerbelastung und
Mittelverwendung mitentscheidet.

Die Agrarsubventionen sollten wie die Regionalförderung aus dem
europäischen und den nationalen Haushalten kofinanziert werden, um
nationale Finanzpolitiker an der Kontrolle der Mittelverwendung zu
beteiligen. Die Verwaltung der Regionalförderung sollte dezentralisiert
werden. Auf eine gemeinsame Regionalförderpolitik kann die Europäische
Union aber nicht verzichten. Ohne europäische Zielvorgaben, Förderkriterien
und Kontrollmechanismen ist die vernünftige Verwendung der Mittel gefährdet.

Die EU braucht effizientere Entscheidungswege, damit sie sich nach der
Osterweiterung - als Gemeinschaft von 27 oder mehr Ländern - nicht selbst
blockiert. Dabei muss den nationalen Regierungen eine starke Stellung
gegenüber der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament erhalten
bleiben: Die EU kann nur mit den Nationalstaaten weiterentwickelt werden,
nicht gegen sie. Um staatliche Handlungsfähigkeit und Demokratie in der
Europäischen Union zu stärken, schlägt die FTD folgende Veränderungen vor:

Das Vetorecht der Regierungen wird abgeschafft. Kein Minister und kein
Regierungschef sollte die EU im Alleingang blockieren können, wenn diese
gemeinsam handeln will. Die Staaten sollen aber die Beteiligung an
militärischen Einsätzen verweigern dürfen, sofern diese nicht der
kollektiven Verteidigung dienen.

Jede Regierung ernennt einen Minister im Rang eines stellvertretenden
Regierungschefs und entsendet ihn in den Ministerrat der EU, der die
Bezeichnung Rat der Staaten erhält. Diese Minister koordinieren zu Hause
die Europapolitik ihrer jeweiligen Heimatregierung. Bei der Beratung und
Verabschiedung neuen Gemeinschaftsrechts tagen sie öffentlich, also wie ein
Parlament. Die Koordination nationaler Politiken, etwa bei der Außen- oder
Finanzpolitik, findet weiter hinter verschlossenen Türen statt. Auf diese
Weise wird auch in Brüssel die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und
Regierung sichtbar.

Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs tritt mindestens einmal
im Jahr unter jährlich wechselndem Vorsitz zusammen, um der Union neue
Impulse zu geben. Der Vorsitzende, der Kommissionspräsident und das
EU-Parlament können ihn einberufen.

Die politische Verantwortlichkeit der Europäischen Kommission muss gestärkt
werden. Schon heute ist sie keine Behörde, sondern eine Exekutive mit dem
Monopol, Gesetzesvorschläge zu machen. Daher sollte der
Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament mit einfacher Mehrheit
gewählt und vom Rat der Staaten mit einfacher Mehrheit bestätigt werden.
Wenn die Wahl eines Kommissionspräsidenten durch das Parlament mehrmals
scheitert, oder der Rat diesem sein Vertrauen verweigert, wird das
Parlament aufgelöst. Dann werden Neuwahlen einberufen.

Damit die Kommission effizient arbeitet, wird die Zahl der Kommissare auf
15 begrenzt. Der Kommissionspräsident kann ihnen Stellvertreter zur Seite
stellen, um möglichst viele Nationalitäten einzubeziehen. Der
Kommissionspräsident ernennt und entlässt die Kommissare. Verliert er das
Vertrauen von Parlament oder Rat, tritt die gesamte Kommission zurück.

Die Außenvertretung der Gemeinschaft sollte bei der Kommission liegen.
Deshalb muss das Amt des Hohen Vertreters mit dem des Außen-Kommissars
verschmolzen werden. Der Kommissar für Wirtschaft und Finanzen sowie der
Kommissar für Außen- und Sicherheitspolitik haben eine besondere Rolle. Sie
müssen Weisungen vom jeweiligen Fachministerrat entgegennehmen, solange
diese Bereiche in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit verbleiben. Wegen
der Bedeutung ihrer Aufgaben werden sie Vizepräsidenten der Kommission.
Spricht der Rat der Staaten ihnen das Misstrauen aus, entlässt sie der
Kommissionspräsident .

Europäische und nationale Parlamentarier müssen stärker an der
Europapolitik mitwirken, um die Regierungszusammenarbeit besser zu
kontrollieren. Das Europäische Parlament sollte dieselben
Gesetzgebungsbefugnisse erhalten wie der Rat der Staaten. Das Parlament
kann Kommissare und Minister zur Anhörung laden. Das Parlament darf ferner
Untersuchungsausschüsse einsetzen. Nationale Abgeordnete können an
Anhörungen und Untersuchungsausschüssen beteiligt werden.

Gemeinsam bilden nationale und europäische Parlamentarier einen
Europäischen Kongress . Dieser ratifiziert EU-Verträge und debattiert
einmal jährlich mit den Staats- und Regierungschefs über die Lage der
Union. Der Kongress kann vom Kommissionspräsidenten oder vom Rat der
Staaten zu Sondersitzungen einberufen werden. Er muss Einsätze der
militärischen Eingreiftruppe genehmigen.

Aus dem Kongress heraus wird ein Europäischer Konvent gebildet. Unter
Beteiligung von Kommission und Regierungen arbeitet dieser Änderungen des
EU-Vertrags aus. Diese müssen weiterhin von den Staats- und Regierungschefs
angenommen werden - zusätzlich aber von zwei Dritteln der Mitglieder des
Kongresses.

Schon für die Vorbereitung der anstehenden EU-Reform soll ein Konvent
zusammentreten. Er soll Vorschläge für einen neuen Verfassungsvertrag der
EU ausarbeiten und den Staats- und Regierungschefs als Beratungsgrundlage
vorlegen. Dieses Dokument sollte zur Europäischen Verfassung werden. Der
neue Vertrag muss die Handlungsfähigkeit der EU sichern. Er muss Europa
zugleich bürgernäher machen, indem die Aufgaben der Europäischen Union in
klarer und einfacher Sprache niedergeschrieben werden. Er muss flexibel
genug formuliert sein, um die notwendige Weiterentwicklung der europäischen
Integration zu ermöglichen.

© 2001 Financial Times Deutschland

Jan Seifert

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