Aktuelles Editorial "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" von Peter Glotz

From: Florian Rodeit (florian@rodeit.de)
Date: Sat Feb 02 2002 - 18:09:58 CET


Editorial

Europa? Das ist nicht nur die Europäische Union, obwohl die wichtiger ist
als manch neudeutscher Nationalstaatler glaubt. Europa ist ein verwirrend
vielfältiges Netz historischer, politischer, wirtschaftlicher und vor allem
kultureller Bezüge. Das versucht unsere Essay-Sammlung »Kleiner
Grenzverkehr« mit ihren neun Nachbarschaftstexten klar zu machen: Autoren
mit doppeltem Wohnsitz, zweifacher Loyalität oder gespaltenem Herzen
schreiben über ihre Grenzgänge. Das Spektrum reicht vom Alltag einer
deutsch-holländischen Polizeistation bis zu den Ängsten der Bürger von
Schwedt vor osteuropäischen Billiglöhnern. Als kulturelles Beispiel sei
Peter Bechers Hommage auf Schloss Janowitz, genauer auf dessen Besitzerin
Sidonie Nádherný von Borutin, zitiert. Sidonie, die zweisprachige Böhmin,
hatte Beziehungen zu Rilke, Karl Kraus, Karel Capek, war ein
Kommunikationsgenie, eine geistige Grenzgängerin, schließlich eine
Vertriebene. 1999 kehrt sie in ihr Schloss zurück - als Tote. Der
tschechische und der deutsche Kulturminister umarmten sich an ihrem Grab.
Mein Gott, hätten wir das nicht früher und billiger haben können?
Die deutschen Intellektuellen, schreibt Klaus Harpprecht, hätten weniger für
Europa geleistet als jeder andere Berufsstand. »Europa hat sie gelangweilt«.
Wohl wahr. Trotzdem sei dieses verfasste Europa, also die Europäische Union,
ein stolzer Erfolg. Unser Herausgeber und Autor, selber ein Grenzgänger mit
Wohnsitz in La Croix Valmer, feiert den EURO, den so viele säuerlich
begrüßen. Er erweist sich wieder einmal als linksliberaler Anwalt der
Adenauerschen Westpolitik, als Kritiker der nationalen Verblockung der
Sozialdemokratie in den fünfziger Jahren und als spitzzüngiger Gegner des
deutschen Kulturpessimismus, der allemal frankophob, zivilisationskritisch
und national war.
Diese Zeitschrift steht zu ihrer geistigen Tradition. Aber fällt sie damit
nicht aus der Zeit? Dirk Schümer hat in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN eine
beachtenswerte Analyse des Afghanistan-Kriegs publiziert. In der Konsequenz
der terroristischen Attentate des 11. September 2001 verlören NATO und EU
schlagartig an Bedeutung. England, Deutschland und Frankreich hätten die USA
um Hilfe bei ihrer Militäraktion gebeten, nicht die NATO. Die »größeren«
Nationalstaaten kehrten zurück. Wer sei schon Javier Solana? Ein rat- und
bedeutungsloser Weltreisender. Die übernationalen Bündnisse hätten bis 89/90
ihre Bedeutung gehabt. Jetzt siechten sie dahin.
Der Ton Schümers ist arrogant und von der Perspektive des »Neuen Rom« ein
wenig auch: des Neuen Berlin - geprägt. Was sollten die Amerikaner schon mit
den Tschechen oder Dänen? Die EU solle sich um die mazedonischen oder
zypriotischen Petitessen kümmern. Die Weltpolitik machten die USA und die
großen Nationalstaaten. Vom triumphalistischen Gestus des sich der
Grossmacht an den Hals werfenden Intellektuellen einmal abgesehen, hat
Schümer aber den Finger in eine neue Wunde gelegt. Das verfasste Europa ist
in der Tat gefährdet. Es wird sehr kompliziert, sehr langsam durch die
Osterweiterung. Verläppert es zur Freihandelszone? Das wäre eine Konsequenz,
die uns dazu bringen müsste, das bisher so gefeierte Jahr 1989 mit
zwiespältigen Gefühlen zu betrachten. Was tun wir jetzt?

Peter Glotz





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